Geheimpapiere:EU steht kurz vor Handelspakt mit Südamerika

Cattle walk up a ramp into a cargo ship for export, at Vila do Conde port in Barcarena

Brasilianische Rinder auf dem Weg in ein Frachtschiff. Landet südamerikanisches Fleisch bald auch auf europäischen Tellern?

(Foto: Paulo Santos/Reuters)
  • Die EU steht kurz vor dem Abschluss eines Handelspakts mit Brasilien und drei anderen Staaten Südamerikas.
  • Der Pakt würde etwa 800 Millionen Konsumenten umfassen.
  • Das geht aus Verhandlungstexten hervor, die die Süddeutsche Zeitung von Greenpeace und anderen Quellen erlangte.

Von Alexander Hagelüken, Alexander Mühlauer und Jan Willmroth

Die Polizisten legten sofort Handschellen an. Ihre Razzia im März 2017 traf mehr als 20 Schlachthäuser und Packstationen überall in Brasilien, darunter die internationaler Konzerne wie BRF und JBS. Der Vorwurf: Salmonellen im Geflügel und verdorbenes Fleisch, gemischt unter frisches - und bestimmt für Supermärkte, Schulen und den Export. Die Polizisten nahm mehr als 20 Gesundheitsinspekteure fest. Sie sollen sich ebenso wie Politiker teils jahrelang bestechen haben lassen, um die Gammelfleischer gewähren zu lassen.

Brasiliens Polizei bewies Humor. Sie nannte ihre Aktion Carne fraca: Das Fleisch ist schwach. So heißt es schon in der Bibel, mit dem Vorsatz, der Geist sei willig. Deutschen Verbrauchern könnte das Lachen allerdings bald im Halse stecken bleiben.

Import von Fleisch und anderen Lebensmitteln erleichtern

Denn die EU steht kurz vor dem Abschluss eines Handelspakts mit Brasilien und anderen Staaten Südamerikas, der den Bürgern kaum bekannt ist. Das Mercosur-Abkommen soll den Import von Fleisch und anderen Lebensmitteln nach Europa erleichtern - und könnte den Schutz der Verbraucher lockern. Das geht aus hunderten Seiten Verhandlungspapieren hervor, die die Süddeutsche Zeitung von Greenpeace und anderen Quellen erhielt. Sie erlauben erstmals einen Einblick in die geheim gehaltenen Gespräche. So will die EU südamerikanische Fleischbetriebe akzeptieren, wenn das Herkunftsland garantiert, das alles in Ordnung ist - das wirkt brisant angesichts eines Korruptionsskandals, in den selbst Brasiliens Präsident verwickelt ist.

Die Gammelfleischaffäre zeigt, zwischen welchen Polen sich Europa in seiner Handelspolitik bewegt. Zum einen will sie nach fast 20 Jahren zähen Gesprächen endlich einen Vertrag mit vier aktuellen Mercosur-Staaten (Grafik). Der Pakt soll schon beträchtliche Industrieexporte erheblich steigern, verspricht also mehr Jobs.

Darüber hinaus "sei das Abkommen von herausragender strategischer Bedeutung", erklärten Ende November Vertreter Deutschlands und anderer EU-Nationen laut Protokoll einer vertraulichen Sitzung. Es geht darum, Märkte zu besetzen, bevor es zum Beispiel die Chinesen tun. Und es geht darum, ein Zeichen gegen den protektionistischen US-Präsidenten Donald Trump zu setzen. Weil der das System des globalisierenden Freihandels bedroht, dem der Westen seit dem Zweiten Weltkrieg folgt. Wegen all dem, Jobs und Trump, drängen die EU und Südamerika auf einen Abschluss noch dieses Jahr.

Frankreichs Wähler fürchten Billigimporte - der Front National buhlt um ihre Stimmen

Aber es gibt eben noch eine andere Seite. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte auf dem jüngsten Brüsseler Gipfel vor Eile. Ihn treiben vor allem die heimischen Landwirte, die Angst vor einer Flut von Billigimporten aus Südamerika haben. Der rechtsextreme Front National buhlt bei der Agrar-Klientel gezielt um Zustimmung. Und Macron formulierte noch einen Einwand: Die Mercosur-Verhandlungen hätten 1999 begonnen, als die Umwelt- und Gesundheitsvorschriften weniger streng waren als heute und die Verbraucher weniger skeptisch.

Mit anderen Worten: Der Vertrag könnte in diesen Punkten zu weich sein.

Diese Gefahren stecken eben auch in dem Abkommen: Dass mehr Exporte aus Südamerika die Vernichtung des tropischen Regenwalds beschleunigen. Dass der Klimaschutz leidet, weil Südamerika Ausnahmen für seine gigantischen Rinderherden fordert, die jede Menge Treibhausgase in die Luft blasen. Nirgends aber wird der Konflikt zwischen Vorteilen des Handels und möglichen Nachteilen so deutlich wie beim Schutz der Verbraucher.

Als im März 2017 die Gammelfleischaffäre losbrach, stoppten die USA alle Rindfleischexporte aus Brasilien. Die EU reagierte weicher, sie suspendierte nur die untersuchten Betriebe. Brüssel schickte dann ein Team los. Das befand das Kontrollsystem für Rinder für in Ordnung, entdeckte aber gravierende Mängel bei Geflügel. Manche Schlachthäuser werden nicht von offiziellen Veterinären untersucht. Laut Report unterschreiben Beamte "Exportbescheinigungen, ohne den Wahrheitsgehalt der Angaben überprüfen zu können", etwa weil keine Veterinäre die toten Tiere obduziert haben. Und: Die Bedingungen begünstigten "Interessenkonflikte".

Was das in unbürokratischer Sprache heißt, legte der Fleischkonzern JBS selbst offen. Er gab zu, er habe jahrelang mehr als 200 Inspekteure mit festen Gehältern von bis zu 6000 Dollar im Monat geschmiert. Das ist bemerkenswert, weil Europa bereits mehr als die Hälfte seiner Rindfleisch- und Geflügelimporte aus den Mercosur-Staaten bezieht. Allein die Bundesrepublik importiert 30 000 Tonnen im Jahr.

Zwar erklärte die deutsche Fleischwirtschaft nach der Gammel-Affäre, es sei "höchst unwahrscheinlich, dass die Rindfleischimporte der EU von den aktuell aufgedeckten Straftaten in Brasilien betroffen" seien. Lebensmittelkontrolleure berichten allerdings, dass in Italien angeliefertes Geflügel Salmonellen über internationalen Grenzwerten aufwies. Die entscheidende Frage lautet nun: Was geschieht, wenn Brasilien und Co. durch das Mercosur-Abkommen künftig noch viel mehr Lebensmittel nach Europa liefern?

Europa will Kontrollen für Fleisch nicht verschärfen

Anders als der Gammelfleischskandal erwarten ließe, will Europa die Kontrollen für Fleisch und andere sensible Produkte nicht verschärfen. Wie die geheimen Dokumente zeigen, dürften sie eher schwächer werden. Artikel 6 des SPS-Kapitels über Lebensmittel schlägt mehr Tempo vor. Die EU soll südamerikanische Export-Betriebe akzeptieren, ohne sie vorher zu begutachten. Sie soll sich auf Garantien des Exportlandes verlassen, dass Betriebe "die sanitären Bedingungen erfüllen".

Diese Garantien erscheinen in einem besonderen Licht, denkt man an die von der EU festgestellten Kontrollmängel und die Bestechungsgehälter des JBS-Konzerns für 200 Inspekteure. Besonders bemerkenswert wirken sie, betrachtet man die Weiterungen des Korruptionsskandals. JBS, einer der weltgrößten Lebensmittelhersteller, bestach nach eigenen Angaben über Jahre 2000 Beamte und Politiker. Um dem Gefängnis zu entgehen, versprach Firmeneigner Joesley Batista, die Verstrickung von Staatspräsident Michel Temer aufzudecken, den er auch bestochen haben will.

Er ließ sich verkabeln, bevor er Temer in dessen Residenz fragte, ob er die Bestechung eines Mitwissers aus der Politik beibehalten sollte. "Beibehalten", antwortete der Präsident. Temer wurde mittlerweile zwei Mal vorm Obersten Gerichtshof angeklagt. Er ist immer noch Präsident, denn das Parlament hebt seine Immunität nicht auf. JBS war vor der letzten Präsidentschaftswahl übrigens der größte Wahlkampfspender für Abgeordneten-Kandidaten - mit 112 Millionen Dollar. Das ist das Land, auf dessen Garantien sich die EU verlassen will. Bleibt zu hoffen, dass europäische Behörden Importe immer zuverlässig prüfen werden. Wird der Mercosur-Entwurf Realität, dürfen sie eine Lieferung nur genau einmal physisch begutachten.

"Vor dem Hintergrund, dass der größte Fleischproduzent Brasiliens noch dieses Jahr verdorbenes Fleisch exportieren wollte, erscheint die Lockerung der Verbraucherschutzstandards wie ein Hohn", findet Friedrich Ostendorff, Agrarexperte der Grünen im Bundestag. Die EU-Kommission erklärt offiziell, sie nehme nicht zu enthüllten Verhandlungstexten Stellung. Generell gelte: "Die Kommission tut wie in anderen Handelsgesprächen das Nötige, um die rigorosen EU-Standards für Lebensmittelsicherheit zu sichern, die Umwelt zu beachten und zu einer nachhaltigen Produktion beizutragen".

Europa hat im Lebensmittel-Kapitel nicht sein Vorsorgeprinzip verankert

Ob ihr das nach Abschluss des Vertrags gelingt, daran zweifeln Kritiker. Denn Europa hat im Lebensmittel-Kapitel nicht sein Vorsorgeprinzip verankert - wie schon beim TTIP-Vertrag mit den USA und beim Handelspakt mit Japan nicht. Nach dem Vorsorgeprinzip stoppt sie Importe, wenn sie Gefahren für Umwelt und Gesundheit befürchtet. Und zwar selbst, wenn es noch keine wissenschaftlichen Beweise für diese Gefahren gibt. Ohne Vorsorgeprinzip bei Lebensmitteln steht der EU-Verbraucherschutz auf wackligen Beinen. Schon zwei Mal verlor die EU Klagen vor der Welthandelsorganisation WTO, weil sie hormonbehandeltes Rindfleisch und gentechnisch veränderte Produkte aus den USA nicht importieren wollte. Nebenkläger im Gentechnik-Fall: Die Mercosur-Staaten. "Einige Mercosur-Länder sind gegenüber einem Einsatz der Gentechnik sehr viel aufgeschlossener als die EU", sagt Peter-Tobias Stoll, Rechtsprofessor an der Uni Göttingen.

Die Vorteile eines Handelsabkommens und ihre möglichen Nachteile: Das ist der Zwiespalt, in dem sich Europa bei Mercosur jetzt ebenso befindet wie es schon zuvor bei TTIP und dem Kanada-Abkommen Ceta der Fall war, die eine tiefe Zerstrittenheit offenbarten. Wie aus Sitzungsprotokollen hervorgeht, ist Frankreichs Präsident Macron mit seinen Bedenken wegen billiger Agrarimporte nicht alleine. "Polen und Österreich forderten starke Schutzklauseln für den Agrarbereich", heißt es über die Sitzung Ende November.

Der Vertreter Deutschlands widersprach umgehend: Schutzklauseln seien "schädigend". Südamerika könnte seinerseits Industrieexporte aus Europa bremsen. Die aber sind zentral, damit sich so ein Abkommen für die EU überhaupt lohnt.

Mercosur-Staaten drängten lange auf Sonderregeln, die für Atom-U-Boote geeignet wären

"Dear Commissioner", schrieben die Autoverbände im Juni an Handelskommissarin Cecilia Malmström ihre Bitte, Zölle radikal zu senken. Schon jetzt exportieren sie für drei Milliarden Euro Autos und Teile an die Mercosur-Staaten, aber es soll viel mehr werden: "Unter den richtigen Bedingungen gibt es ein echtes Potenzial für Wachstum, angesichts der Größe des Mercosur-Marktes." Die Autobranche forderte auch, dass einfach europäische Technologie-Standards für Autos gelten sollten, falls die Mercosur-Staaten internationale Standards nicht anerkennen. Und sie schaffte es, diese Idee direkt in den EU-Forderungen zu verankern. Das zeigen die Dokumente. Autos mit "neuen Technologien oder neuen Features" sollten problemlos auf die lateinamerikanischen Märkte kommen, es sei denn, es lassen sich Risiken für Gesundheit, Sicherheit oder Umwelt belegen. So können autonome Fahrzeuge leichter neue Märkte erobern.

Angesichts solcher und anderer Streitfragen rückte Malmström intern schon vom Ziel ab, Mercosur noch dieses Jahr abzuschließen. Wie weit beide Seiten noch entfernt sind, zeigt sich auch in einem anderen Kapitel. Die EU will sich über das Abkommen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen sichern, die ein großes Volumen haben. Doch Mercosur pocht auf "spezielle und unterschiedliche Behandlung" des Themas - und Paraguay will Grundprinzipien gar nicht erst mittragen.

Dafür lässt etwas anderes aufhorchen. Explizit verlangten sie bis vor kurzem bei der Rüstung Sonderregeln für die Beschaffung von "spaltbaren Materialien oder Materialien, aus denen sie gewonnen werden". Experten des Stockholmer Friedensforschungs-Instituts Sipri vermuten dahinter den Bau von Atom-U-Booten, den Brasilien und Argentinien vorantrieben.

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