Das AKW Zwentendorf ging nie in Betrieb.

Foto: standard/corn, http://www.corn.at

Bei einer Volksabstimmung 1978 sprach sich eine knappe Mehrheit dagegen aus.

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Wagen wir ein Gedankenexperiment: Wir schreiben das Jahr 1978, an der Donau steht ein Gebäude das die Republik entzweit: das Kernkraftwerk Zwentendorf. Die Regierung Kreisky will das AKW in Betrieb nehmen, aber auf Druck einer breiten Bürgerbewegung landet die Frage vor Gericht und wird nicht, wie historisch tatsächlich geschehen, der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Das Gericht muss nun abwägen, welche Interessen wichtiger sind: Arbeitsplätze und billiger Atomstrom oder eine intakte Umwelt und ein AKW-freies Österreich. Mit den geänderten Staatszielen wäre klar: Das AKW Zwentendorf wäre im Namen von "Wachstum, Beschäftigung und einem wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort" zu genehmigen.

Heute geht es nicht um ein Kernkraftwerk. Anlass des geplanten Verfassungsgesetzes ist die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Bau einer dritten Piste des Flughafens Wien-Schwechat. Das Gericht verbot den Bau aufgrund der Auswirkungen auf den Klimaschutz und berief sich dazu unter anderem auf das Bundesverfassungsgesetz "über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, den umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung". Die Erkenntnis ist ein großer Erfolg für Umwelt- und Klimaschutz. Es fand auch international Beachtung als eine der ersten Entscheidungen, die Umweltschutz in einer Interessenabwägung derart berücksichtigt.

Klimaschutz nachrangig

Bereits die große Koalition machte 2017 schnell klar, dass Klimaschutz für sie nachrangig ist. Sie setzte sich nicht nur für den Bau der dritten Piste ein, sondern wollte ebenjenes Verfassungsgesetz ändern, welches die bahnbrechende Entscheidung möglich machte. Es sollte nicht wieder passieren, dass ein Gericht die Bekämpfung des Klimawandels über kurzfristige Profitinteressen stellt. Das Vorhaben der großen Koalition ging dann vor der Neuwahl letztlich nicht mehr durch den Nationalrat.

Nun scheint Türkis-Blau das Thema aufzugreifen. Der Ministerrat hat am 7 März beschlossen, das bestehenden Verfassungsgesetz über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, den umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung um eine Staatszielbestimmung Wirtschaftsstandort ergänzt wird: "Die Republik Österreich (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zu einem wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort, als Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung." "Wir müssen bestimmte Projekte durchboxen können", meinte dazu der Chef der Industriellenvereinigung Georg Kapsch offenherzig im STANDARD.

Neoliberale Politik

Abgesehen davon, dass anlassbezogene Verfassungsänderungen nie eine gute Idee sind, ist der Vorschlag nicht nur umweltpolitisch, sondern auch demokratiepolitisch höchst bedenklich. Der Standortwettbewerb ist ein beliebtes Vehikel, um neoliberale Politik als neutralen Sachzwang zu verkaufen und auch gegen Widerstand durchzusetzen. Wir kennen die Argumentation alle nur zu gut: Angeblich können wir uns Sozialstandards, Arbeitsrechte oder eine auch nur minimale Besteuerung von Superreichen nicht mehr "leisten", da sonst der Standort leidet und Kapital und Arbeitsplätze verloren gehen.

Der Widerstand gegen diese Kürzungs- und Verarmungspolitik wächst jedoch. Um ihre Ideologie und Interessen langfristig abzusichern, schreiben neoliberale Eliten scheinbar neutrale Ziele in möglichst schwer zu verändernden Rechtsnormen fest. Das geschah auf EU-Ebene etwa mit dem Fiskalpakt, der die Mitgliedsstaaten nicht nur zu Budgetkürzungen zwingt, sondern auch eine technokratische "Schuldenbremse" in den Verfassungen verankern will. Der Fiskalpakt wurde 2012 als völkerrechtlicher Vertrag abgeschlossen, da er selbst mit den minimalen demokratischen Spielregeln der EU nicht durchsetzbar war. Auch Handelsabkommen wie TTIP und Ceta erschweren bis verunmöglichen die Rücknahme von Privatisierungen und Liberalisierungen, schaffen Sonderklagerechte für Konzerne und schwächen damit den demokratischen Rechtsstaat. Hinter all diesen Projekten steckt das gleiche Ziel: Neoliberale Politik soll über die jeweilige Regierungsperiode hinaus verbindlich verankert werden – auch wenn sich die demokratischen Mehrheitsverhältnisse und die öffentliche Meinung ändern.

Demokratie- und umweltpolitisch falsch

Die geplante Verfassungsänderung ist nicht nur demokratiepolitisch falsch. Auch umweltpolitisch liegt die Regierung gehörig daneben: eine intakte Umwelt, sauberes Wasser und gesunde Luft sind ein Selbstzweck, wir brauchen sie zum Leben. Die ökologische Zerstörung und die Gefahren des Klimawandels sind augenscheinlich. Es führt kein Weg daran vorbei, Wohlstand und ein gutes Leben langfristig anders zu begründen als durch Wachstum und Wettbewerb. Aber selbst wenn zukünftige Umweltschäden Wirtschaftsinteressen gegenübergestellt werden, muss berücksichtigt werden, dass wir nicht wissen, was diese Schäden in Zukunft genau bedeuten und wie sich unsere Wirtschaft entwickeln wird.

Gehen wir zurück zu unserem Gedankenexperiment: Gäbe es das neue Verfassungsgesetz, müsste das AKW Zwentendorf also durch das Gericht genehmigt werden – denn Atomkraft galt als sicher und brachte Arbeitsplätze. Heute, nach Tschernobyl und Fukushima sind wir aber heilfroh, dass das AKW nie in Betrieb genommen wurde und uns auch kein neoliberales Staatsziel dazu gezwungen hat. (Ralph Guth, 15.3.2018)