Forscher kritisieren Sozialabbau

Wissenschaftler haben am Dienstag die Sozialpolitik der Regierung kritisiert. Die geplante Änderung der Mindestsicherung verurteilten sie als „Wohlfahrtschauvinismus“. Durch die Reformen würden Bedürftige zu Bittstellern gemacht und noch stärker armutsgefährdet.

Während für bestimmte Gruppen Leistungen beibehalten oder gar ausgebaut würden, werde etwa bei Migranten gekürzt. „Die Armutsgefährdung wird verstärkt, der soziale Zusammenhalt unterminiert“, warnt Politikwissenschaftler Emmerich Talos von der Universität Wien.

Er kritisierte die bereits beschlossenen Reformen, etwa dass der Beschäftigungsbonus ausläuft, die Familienbeihilfe für Kinder im EU-Ausland gekürzt, die Höchstarbeitszeit angehoben und die Krankenkassen zentralisiert werden. Die geplante Reform der Mindestsicherung bezeichnete er als „Abkehr von jeglicher Armutspolitik“, da die Mindestsicherung mit 863 Euro weit unter der von der EU berechneten Armutsschwelle von 1.283 Euro in Österreich liege. Dazu komme, dass sie im Gegensatz zur Ausgleichszulage in der Pensionsversicherung nur zwölf und nicht 14 Mal im Jahr ausbezahlt wird und dass damit keine Pensionsversicherungsjahre erworben werden können.

„Massive Ungleichbehandlung“

Für den Soziologen Christoph Reinprecht von der Uni Wien werden die Ärmsten mit den Reformen „wieder zu Bittstellern gemacht“ und diverse Gruppen wie Migranten teilweise ausgeschlossen. „Es wird bewertet, welche Gruppen der Bevölkerung einen stärkeren Benefit haben soll von bestimmten Leistungen“, kritisiert er eine „Klassifizierung der Gesellschaft“. So könnten etwa vom Familienbonus nur Berufstätige mit einem gewissen Einkommen profitieren, während Phänomene wie atypische Beschäftigung und Working Poor zunähmen.

Auch Sozialwissenschaftlerin Christine Stelzer-Orthofer von der Uni Linz sieht „eine massive Leistungsreduktion und Sozialabbau für alle, aber auch für bestimmte Gruppen“: Der vorgesehene Mindestaufenthalt von fünf Jahren, um Mindestsicherung beziehen zu können, stelle eine „massive Ungleichbehandlung“ dar und stehe daher wohl auch im Widerspruch zum EU-Recht. Dasselbe gelte für den „Arbeitsqualifizierungsbonus“, der besagt, dass für den vollen Bezug der Mindestsicherung ein bestimmtes Sprachniveau nachzuweisen ist. Andernfalls reduziert sich die Beihilfe um 35 Prozent.

Stigmatisierung befürchtet

„Sehr verstörend“ nannte es Stelzer-Orthofer, dass sich im Gesetzesentwurf - die Begutachtungsfrist endet am Donnerstag - keine Regelung dazu findet, ob Mindestsicherungsbezieher eine Krankenversicherung erhalten. Sie befürchtet Stigmatisierung, Hürden und Barrieren bei der ärztlichen Versorgung, sollten Mindestsicherungsbezieher wie früher Krankenscheine über das Sozialamt besorgen müssen. Immerhin seien 60 Prozent dieser Gruppe mehrfach oder chronisch krank.

„Besonders grotesk“ findet es Ökonomin Alyssa Schneebaum von der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), dass bei kinderreichen Familien gekürzt wird. Damit werde bei den Ärmsten die Armut über Generationen verfestigt. Die Reform werde außerdem Frauen besonders stark treffen, da diese öfters geringe Einkommen haben und armutsgefährdet sind, bei Alleinerziehenden verdopple sich dieses Risiko.

Abgrund statt Hängematte

Das Ziel der Reform - den Druck zu steigern, wieder in den Arbeitsmarkt zu einzusteigen - kann aus Sicht von Bernhard Kittel, Wirtschaftssoziologe an der Uni Wien, ohnehin nicht erreicht werden. „Das angeblich angenehme Leben in der sozialen Hängematte ist in Wirklichkeit ein unheimlich prekäres Leben an der Kante des Abgrunds.“

Ein beträchtlicher Teil der Bezieher könne nämlich wegen gesundheitlicher Probleme nicht arbeiten. Viele andere würden bei der Jobsuche an den teils weit unter 50 Jahren liegenden „inoffiziellen Altersgrenzen“ scheitern, fänden etwa wegen Haftstrafen keine Stelle oder könnten keinen Posten annehmen, weil ihre Kinder sonst durch Halbtagsschule und zu kurze Kindergarten-Öffnungszeiten unbetreut wären.

Für Asylwerber mit Bleiberecht sei wiederum die Mindestsicherung die einzige Möglichkeit, sich in jener Phase, in der sie versuchen, die Zugangshürden zum österreichischen Arbeitsmarkt zu überwinden, abzusichern. Reichen ihre Deutsch- oder Englischkenntnisse nicht, bleibe ihnen mit der gekürzten Mindestsicherung allerdings nicht genug zum Leben. Auch für subsidiär Schutzberechtigte, die nur ein vorübergehendes Bleiberecht erhalten, und bestimmte Haftentlassene soll es nach der geplanten Reform nur eine reduzierte Mindestsicherung geben.

science.ORF.at/APA

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