Frankreich im Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik

02. April 2019

Durch das europäische Krisenmanagement wurden die nationale Arbeitsmarktregulierung und eine eigenständige Arbeitsmarktpolitik erheblich eingeschränkt. Die Neue Europäische Arbeitsmarktpolitik betraf nicht nur die südeuropäischen Krisenländer, sondern auch Frankreich, das in der Krise umfangreiche Arbeitsmarktreformen zulasten der ArbeitnehmerInnen umsetzte.

Bearbeitung der Krise folgt marktliberalen Mustern

Bereits 1978 hatte Elmar Altvater darauf hingewiesen, dass die Reduktion der Lohnstückkosten – neben Eingriffen in den Staatshaushalt – der zentrale Ansatzpunkt ordoliberaler Krisenpolitik ist. Im Kern zielt diese auf eine Wiederherstellung optimaler Verwertungsbedingungen für die Unternehmen und eine Steigerung ihrer Profitabilität ab. Die Produktivität wird dabei nicht durch eine staatliche Industriepolitik gesteigert, sondern indem die Löhne ausschließlich als Kostenfaktor gesehen werden, der gesenkt werden muss. Ausgehend von der Dominanz der Neoklassik in den Wirtschaftswissenschaften folgte die Bearbeitung der Krise ab 2007 ebenfalls den marktliberalen Mustern der Austeritätspolitik: Die Arbeitsmarktpolitik wurde zum zentralen Gegenstand europäischer Reformbemühungen.

New Economic Governance legt Grundstein für arbeitsmarktpolitische Eingriffe

Das europäische Semester © A&W Blog
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Über das Europäische Semester ist es den europäischen Institutionen möglich, arbeitsmarktpolitische Reformvorhaben zu kommentieren und auch Reformen in den einzelnen Nationalstaaten anzuregen. Anders als bei der Europäischen Beschäftigungsstrategie haben die Empfehlungen nicht nur symbolischen Charakter, sondern besitzen durch ihre Verkopplung mit verschiedenen Sanktionsmechanismen eine eine gewisse Verbindlichkeit. Neben den Sanktionen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) und dem Europäischen Semester gibt es die Möglichkeit, die Struktur- und Kohäsionsfondsmittel vollständig zu streichen, wenn ein Land den länderspezifischen Empfehlungen nicht nachkommt.

Länderspezifische Empfehlungen zielen auf die Arbeitsmarktpolitik

Der Fokus des europäischen Krisenmanagements auf die nationalen Arbeitsmarkt- und Tarifstrukturen wird bei einer Analyse der länderspezifischen Empfehlungen zwischen 2011 und 2018 deutlich. In diesem Zeitraum erhielten 20 Mitgliedsstaaten die Empfehlung, ihre Arbeitslosenversicherungsleistungen abzubauen und/oder Aktivierungs- und Sanktionsmechanismen in die nationale Arbeitslosenversicherung zu implementieren.

13 Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert, den Arbeitsschutz zu lockern und insbesondere den Kündigungsschutz oder die Arbeitszeitregelungen zu flexibilisieren. Neun Mitgliedsstaaten wurde empfohlen, ihre Mindestlöhne zu senken. Besonders bemerkenswert sind die Forderungen nach der Dezentralisierung und/oder einer Deregulierung der Lohnfindung, die an insgesamt zwölf Mitgliedsstaaten herangetragen wurden. Denn in den europäischen Verträgen ist die Lohnpolitik explizit aus dem Kompetenzbereich der EU ausgeschlossen.

Länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters © A&W Blog
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Frankreich im Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik

Als eines der ersten Länder geriet Frankreich in den Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik. Während bereits ab 2009 ein Defizitverfahren eingeleitet worden war, konzentrierte sich die Kommission ab 2011 auf die französische Arbeitsmarktregulierung. 2013 leitete die Kommission zudem ein Verfahren wegen übermäßigen makroökonomischen Ungleichgewichten ein, womit die französische Arbeitsmarktregulierung einem speziellen Monitoring unterlag. Nach Ansicht von Kommission und Rat litt die französische Wirtschaft neben einer Schuldenkrise insbesondere an einer Wettbewerbskrise und einer strukturellen Arbeitsmarktschwäche. Zudem würden hohe Arbeitskosten, ein zu hoher Mindestlohn und eine zu geringe Unternehmensflexibilität die Wettbewerbskrise weiter vertiefen. Die Arbeitsmarktschwäche wiederum resultierte in der Analyse in erster Linie aus dem zu starren Kündigungsschutz und einer zu wenig aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Der Analyse folgten die entsprechenden Empfehlungen. In allen länderspezifischen Empfehlungen zwischen 2011 und 2017 finden sich die Forderungen nach einer Drosselung der Mindestlohnentwicklung, einer Liberalisierung reglementierter Berufe sowie einer Lockerung des Kündigungsschutzes.

Die EU machte Druck

Im Jahr 2015 spitzte sich der Druck vonseiten der europäischen Institutionen zu. Nachdem die französische Regierung nach den Terroranschlägen im Januar 2015 ankündigte, aufgrund von Mehrausgaben für Polizei und Militär die Vorgaben zur Neuverschuldung nicht erfüllen zu können, erhöhten die europäischen Institutionen den Druck, die geforderten arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen umzusetzen.

Bereits im Februar 2015 drohte die Kommission in einer Vorlage für den Europäischen Rat mit der Verhängung eines Korrekturmaßnahmeplans und finanziellen Sanktionen. In der vom Rat beschlossenen Empfehlung wurde von finanziellen Sanktionen abgesehen, jedoch eine sechsmonatige Frist zur Umsetzung konkreter Maßnahmen und erneutes Monitoring vereinbart. Zugleich wurde eine strengere halbjährliche Überwachung, primär im Bereich der Arbeitsmarktregulierung, durch die Kommission beschlossen.

Auch die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters zielten besonders auf die Arbeitsmarkt- und Tarifstrukturen. Durch das Verfahren aufgrund makroökonomischer Ungleichgewichte erhielten die Empfehlungen besondere Aufmerksamkeit, da mit ihnen die Möglichkeit weiterer finanzieller Sanktionen verbunden war. In ihrem Monitoring-Report forderte die Kommission die französische Regierung auf, die Arbeitszeitregelungen zu überarbeiten und die Lohnentwicklung zu drosseln. Die Kommission forderte im Mai 2015 dementsprechend eine Deregulierung des Lohnbildungssystems, eine Flexibilisierung des Kündigungsrechts sowie eine grundlegende Reform des Arbeitsrechts.

Aus europäischen Empfehlungen wird konkrete Politik

Die Empfehlungen fanden Eingang in den Gesetzentwurf für die Reform des französischen Arbeitsrechts, das sogenannte Loi El Khomri. Das 2016 beschlossene Gesetz, das neben den EU-Institutionen vor allem von den französischen Unternehmensverbänden MEDEF und afep gefordert wurde, sah u. a. eine Lockerung und Verwässerung der Überstundenregelung und des Kündigungsschutzes sowie eine Umkehrung der Normrangfolge für betriebliche Vereinbarungen und Tarifverträge vor. So ist es möglich, die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden (in Ausnahmefällen sogar auf 60 Stunden) zu erhöhen und eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden anzuordnen. Die 35-Stunden-Woche gilt nur im Durchschnitt von drei Jahren und kann durch betriebliche Vereinbarungen vollständig ausgehebelt werden. Diese werden zugleich aufgewertet, sodass mit ihnen Branchentarifverträge unterlaufen werden können. Damit wurde das Günstigkeitsprinzip abgeschafft. Die Verabschiedung des Loi El Khomri stellte den größten Abbau von Arbeitnehmerrechten seit den 1990er-Jahren dar und führte zu einer Schwächung gewerkschaftlicher Machtressourcen. Vor allem die Regelung, dass betriebliche Referenden fortan bindend und Betriebsvereinbarungen somit auch mit Minderheitsgewerkschaften geschlossen werden können, war ein schwerer Schlag gegen die ohnehin schwachen französischen Gewerkschaften.

Die europäischen Institutionen agierten sowohl im Vorfeld der Reform als Agendasetter als auch während des Reformprozesses, indem sie medialen und institutionellen Druck ausübten. So veröffentlichte die Kommission vor der Verabschiedung des Loi El Khomri ein Arbeitspapier, in dem sie die Reform als Schlüssel zur Drosselung der Lohnstückkostenentwicklung bezeichnete. Zudem äußerten sich EU-Wirtschaftskommissar Moscovici und Vizekommissionspräsident Dombrovski während des Gesetzgebungsprozesses und warnten vor einer Abschwächung des Reformpakets. Auch die deutsche Bundesregierung erhöhte den Druck und drohte, einer Verlängerung des Defizitverfahrens im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) nicht zuzustimmen. Insbesondere der deutsche Finanzminister Schäuble kritisierte die arbeitsmarktpolitische Situation in Frankreich und regte im April 2015 in einem Vortrag sogar an, dass das französische Parlament, ähnlich wie in Spanien, doch mit Zwang von der „Notwendigkeit von Arbeitsmarktreformen“ überzeugt werden müsste.

Loi El Khomri: Europäischer Druck und interne Interessenkoalitionen

Das Loi El Khomri stellte einen starken Eingriff in das französische Arbeitsrecht dar. Die Rolle der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik war dabei wesentlich. Die länderspezifischen Empfehlungen sowie die verschiedenen Verfahren haben zu einer starken Einschränkung des nationalen Handlungsspielraums in der Arbeitsmarktpolitik geführt. Getragen wurden die Forderungen der europäischen Institutionen von einem wettbewerbskorporatistischen Block, angeführt von den großen französischen Arbeitgeberorganisationen MEDEF und afep sowie den reformorientierten Gewerkschaften und dem Mehrheitsflügel der damals regierenden Sozialdemokratie. Diese Interessenkoalition unterstützte und verstärkte die Forderungen der europäischen Institutionen und ermöglichte die Umsetzung des Loi El Khomri.

Auch wenn die Reichweite und Qualität der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik stark von den politischen Trägern sowie den Kräfteverhältnissen innerhalb des Landes abhängen, so macht das französische Beispiel doch deutlich, dass es im Zuge der Krise zu einer Europäisierung arbeitsmarktpolitischer Kompetenzen gekommen ist und die EU nun Einfluss auf Bereiche nehmen kann, in die sie sich bisher nicht eingemischt hatte und in denen sie auch explizit keine Zuständigkeit auf Grundlage der europäischen Verträge besitzt.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel „Arbeitsmarktregulierung unter Beschuss“, welcher in der Zeitschrift „Industrielle Beziehungen“ erschienen ist.