Lernen, bis es weh tut
Die SchauspielerInnen haben sich ein halbes Jahr ausgeruht, jetzt können sie endlich wieder den Sommer bespielen! Mitnichten - wir haben alle das Winterhalbjahr gespielt, unterrichtet oder inszeniert, und damit eine neue Inszenierung unser Sommerpublikum begeistert, muss viel passieren. Natürlich auch im Hintergrund, sehr viel sogar. Aber auch die Spieler selbst benötigen viel Vorbereitung - mitunter harte Knochenarbeit!
Wer denkt, dass ein Schauspieler nach dem einmal erledigten Studium die Produktionen locker aus dem Ärmel schütteln kann, hat sich leider geirrt. Die Instrumente Körper und Stimme sind gestählt, sämtliche Fantasiebarrikaden behoben - die Theatermaschine kann loslegen! Klingt einfach, ist es aber leider nicht. Der Schauspielerberuf beinhaltet ständiges Lernen. Und das tut auch mal weh. So wie unser jährlicher Workshop.
Gehen. Füße abrollen, Zehen hochziehen, wenden, beschleunigen, stets geschmeidig und fließend. Wir schreiben Tag 4 unserer Workshopwoche und beginnen auch heute mit dem Gehen, Grundlage unseres Alltags im Leben und auf der Bühne. Von den Füßen über die Beine arbeiten wir uns Stück für Stück durch den ganzen Körper. Bewegungen werden analysiert, neue Muskeln aktiviert und ich begrüße die Schmerzen an verschiedenen Stellen im Körper beinahe liebevoll: Hurra, ich lebe und lerne! Unser Ensemblemitglied Thilo Herrmann leitet dieses Jahr einen Teil des Workshops: Biomechanik nach Meyerhold - eine Schauspieltechnik, die einen sehr körperlichen Ansatz verfolgt, gleichzeitig aber auch Grundlage für die szenische Arbeit sein kann. Wir arbeiten an unserem Gleichgewicht, an kleinsten körperlichen Veränderungen und weit ausholenden Bewegungen unter größter Kraftanstrengung. Wir suchen den Ursprung von Gesten und werden aufmerksam für feinste Gruppenimpulse.
Nach einer kurzen Mittagspause geht ein seltsames Gewusel los. Alle stürzen sich auf herumliegende Kostümteile, stopfen sich Kissen unter Kleider, hängen sich Mäntel um. Normalität sieht anders aus - ich sehe Männer in schillernden Abendkleidern, Frauen im Anzug, ein Buckel hier, ein dicker Bauch da, nur ein linker Schuh, dafür fehlt ein Arm und was macht die Socke auf dem Kopf? Hier ist nicht die größtmögliche Originalität gesucht, sondern die absolute Eigenheit. Es ist letztlich egal, was ich mir aus den Klamottenkoffern auswähle - solange die Verkleidung mir die Lust bereitet, auf Figurensuche zu gehen. Doch die absurde Bekleidung reicht noch nicht: Jetzt werden die Gesichter weiß geschminkt, schwarze Konturen und rote Münder ergänzen einen eher erschreckenden denn komischen Anblick und die rote Nase macht den Abschluss: Hier steht ein Clown - aber keiner für den Kindergeburtstag. Ein Buffon, ein böser Clown. Den anderen Teil des diesjährigen Workshops leitet Matthias Grupp, Regisseur unserer neuen Produktion. Wir werfen uns in Einzel- und Gruppenimprovisationen und erleben alle Höhen und Tiefen des kreativen Spiels. Auch hier ist es anstrengend, auch hier tut es weh. Aber das intensive Spiel holt aus dem Nichts, aus der gähnenden kreativen Leere, wahre schöpferische Juwelen hervor. Wir erleben die verrücktesten Figuren und Geschichten und wenn all diese Schauspielerinnen und Schauspieler auf einen Haufen geworfen werden und sich frei spielen, dann kommt das einer kreativen Explosion gleich. Was für eine Truppe!
Dieser Workshop ist ein Segen! Ich kann lernen - ich erlebe Körpertraining und erarbeite mir neue Techniken, ich werfe mich ins kreative Spiel und entdecke ungeahnte Figuren. Und vor allem: Das ganze Ensemble ist dabei. Ich erlebe Improvisationen mit KollegInnen, mit denen ich bisher nie oder selten zusammen spiele.
Dies ist ein Startschuss in die neue Produktion, der noch weit schallen wird! Nicht nur Trommelwirbel und Paukenschlag - nein. Es ist, als würde das Ensemble ein ganzes Orchester spielen und zwar ausschließlich auf Instrumenten, die noch nie jemand in der Hand gehalten hat. Und es erklingt: Musik!
Dass diese Musik im Sommer bis zu Ihnen ins Publikum schallt, das ist unser großes Ziel. Die Produktion ist auf dem Weg, die verrückten Buffone wurden auf MASS FÜR MASS losgelassen - der Wahnsinn darf sein Meisterstück vollbringen!
Ihr Oliver Rickenbacher
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