Zum Inhalt springen
Fotostrecke

"Polenaktion": Testlauf für die Massendeportationen

Foto: Das Bundesarchiv / H. Großberger

"Polenaktion" und Pogrome 1938 "Jetzt rast der Volkszorn. Laufen lassen"

Rund 17.000 Juden wurden in der Nacht vom 28. Oktober 1938 verhaftet und brutal ins Niemandsland an der polnischen Grenze gescheucht, kurz vor den Novemberpogromen. Beide Nazi-Exzesse sind eng verknüpft.

Der Polizist klingelte morgens sehr früh an der Wohnung in der Berliner Spichernstraße. Ein junger Mann öffnete, der Beamte drückte ihm einen Ausweisungsbescheid in die Hand und drängte zum raschen Aufbruch ins Polizeirevier. Die Verhaftung erfolgte vor 80 Jahren, am 28. Oktober 1938. Es handelte sich um Marceli Reich, 18, später Marcel Reich-Ranicki - im Nachkriegsdeutschland brachte er es als "Literaturpapst" zu großem Ansehen.

Auf die Schnelle greifen konnte Reich nur eine Aktentasche mit dem Balzac-Roman "Die Frau von dreißig Jahren" und einem Reservetaschentuch. Jemand müsse ihn angeschwärzt haben, dachte er. Doch bereits auf der Wache traf er 20 "Leidensgenossen". Als er später in der "grünen Minna" zu einem Sammelplatz gebracht wurde, hockten dort schon Hunderte Menschen. Ihm dämmerte: "Nein, niemand hatte mich verleumdet. Aber ich gehörte einer Gruppe an, die verurteilt war - zunächst nur zur Deportation. Es handelte sich um die erste von den Behörden organisierte Massendeportation von Juden." Reich und die anderen Juden wurden gegen Abend zum Schlesischen Bahnhof verfrachtet und in Personenzüge gezwängt, die alsbald Richtung Osten rollten, zur polnischen Grenze.

Als "Polenaktion" ging dieser staatlich organisierte Rauswurf aus dem Nazi-Reich in die Geschichte ein. Landesweit traf es rund 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit, sogenannte "Ostjuden". Allerdings wurde dieser harte Zugriff sehr bald von noch grausameren antisemitischen Gewaltexzessen überlagert: der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November. Beide Ereignisse stehen in engem Zusammenhang.

Nazi-Deutschland präsentierte sich im Herbst 1938 nach außen vor Stolz strotzend. Im März hatte Hitler über den "Anschluss" Österreichs gejubelt, begleitet mit zügelloser, entwürdigender Verfolgung der Wiener Juden. Bei der Konferenz von Evian im Juli hatten sich die Teilnehmerstaaten der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge kollektiv verweigert - "niemand will sie haben", triumphierte die braune Parteipresse. Ende September schließlich war Hitler durch das Münchner Abkommen das Sudetenland als fette Beute zugefallen.

Gleichzeitig wurde die NSDAP-Führungsclique um Hitler, Göring, Goebbels, Himmler und Heydrich immer stärker von ihrer rassistischen Obsession getrieben: der "Lösung der Judenfrage". Zusehends schärfere Gesetze und Repressionen führten ab 1933 zur Ausschaltung aus Gesellschaft und Wirtschaft. Ziel war die rasche Vertreibung, aber mit staatlicher Bereicherung durch willkürliche Enteignung jüdischen Besitzes. Doch den Nazi-Granden ging die "Entjudung" zu langsam voran.

Willkommene Gelegenheit zur Massendeportation

Von den 560.000 Juden Anfang 1933 hatten bis Mitte 1938 erst etwa 250.000 deutschen Boden verlassen; über 300.000 zögerten mit dem Exodus, weil sie nicht wollten oder konnten. Rund 200.000 weitere Juden aus Österreich kamen hinzu. Und immer mehr Staaten schlossen ihre Grenzen.

Fotostrecke

"Polenaktion": Testlauf für die Massendeportationen

Foto: Das Bundesarchiv / H. Großberger

Ein neues Gesetz der polnischen rechtsnationalen Regierung kam der Nazi-Führung gerade recht: Kurz nach Hitlers Österreich-Coup hatte das Parlament in Warschau beschlossen, jenen Polen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten. Dahinter stand die Befürchtung, polnische Juden könnten vermehrt aus Österreich in die frühere Heimat flüchten. Das Gesetz trat Anfang Oktober 1938 in Kraft und wurde erst Mitte Oktober veröffentlicht. Binnen 14 Tagen mussten sich Auslandspolen in Konsulaten Sichtvermerke in ihre Pässe stempeln lassen, ansonsten erlosch die Staatsangehörigkeit automatisch Ende Oktober. Sie wurden dann staatenlos.

Die Nazis erkannten ihre Chance - und schufen Tatsachen. Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, verfügte am 26. Oktober, dass in den folgenden beiden Tagen die polnischen Juden aus Deutschland abzuschieben seien. Die Behörden kalkulierten mit 30.000 bis 50.000 Menschen. Viele lebten seit Jahrzehnten im Deutschen Reich, waren hier sogar geboren. Andere, wie Marceli Reichs Eltern, waren erst in den Zwanzigerjahren eingewandert. Zumeist waren die Verbindungen zur alten östlichen Heimat längst gekappt.

War die "Polenaktion" geplant als Generalprobe für die späteren Deportationen in die Vernichtungsstätten des Holocaust? Auf jeden Fall werden Himmlers enge Mitarbeiter, SD-Chef Reinhard Heydrich und Gestapo-Organisator Werner Best, daraus viel gelernt haben für den systematischen Massenmord der "Endlösung".

Überall im Reich holten Polizisten, zuweilen auch Angehörige der SS und des Roten Kreuzes, Juden aus ihren Wohnungen, oft brutal, immer mit beklemmender Eile. Mitnehmen durften sie allenfalls kleines Gepäck. In Berlin wurden nur Männer abgeführt, 1500 insgesamt. Andernorts widerfuhr dies auch Frauen und Kindern, Greisen, Kranken. Nach Kurzvernehmungen ging es zu Sammelstellen, dann zu den Bahnhöfen. Alsbald rollten die Züge zur polnischen Grenze. Ein zentraler Zielort war Neu-Bentschen an der Bahnstrecke Berlin-Posen-Warschau.

Dort kippte man die Menschen gleichsam aus den Waggons, deutsche Polizeimannschaften scheuchten sie erbarmungslos ins Niemandsland an der Grenze - eher eine Treibjagd als ein Marsch. Die völlig überraschten polnischen Grenzsoldaten hinderten die Vertriebenen jedoch, ins Land zu gelangen. Lange irrten die Juden zwischen den Schlagbäumen umher, ohne Unterkunft in Kälte, Regen und Schlamm. Schließlich lenkten die Polen ein und gewährten ihnen Quartiere im Örtchen Zbaszyn: in Baracken, Ställen, Sälen, auch in Privathäusern. Binnen weniger Stunden summierte sich die Zahl der Vertriebenen auf über 8000.

"Humanitäre Katastrophe"

Zbaszyn mit nur 5000 Einwohnern geriet unmittelbar zum Elendsort, völlig unvorbereitet auf diesen Massenansturm entwurzelter und mittelloser Menschen. Erst nach Tagen gelang die Nahrungsversorgung, auch dank jüdischer Gemeinden und Organisationen in Polen. Die hygienischen Verhältnisse blieben unzulänglich, Betreuung für Kranke, Alte, Frauen und Kinder fehlte zunächst völlig. Es gab Tote, wohl auch Selbstmorde - "eine humanitäre Katastrophe", bilanziert Historikerin Alina Bothe, die über die "Polenaktion" forscht.

Manche konnten weiterreisen und bei polnischen Verwandten oder Freunden unterkommen. Zu ihnen zählte auch der junge Marceli Reich; seine Eltern und sein Bruder waren schon im Frühherbst 1938 von Berlin nach Warschau gezogen. Später durften einige hundert Ausgewiesene kurz nach Deutschland zurückkehren - zwecks "Arisierung": Sie hatten ihre Wohnungen auszuräumen, ihre Geschäfte und Unternehmen zu Schleuderpreisen zu verkaufen.

Tausende Juden mussten Wochen, gar Monate in Zbaszyn ausharren. Erst im August 1939, kurz vor Hitlers Überfall auf Polen, endete das Lagerprovisorium in dem kleinen Grenzflecken. Das Elend blieb nicht unbeobachtet: Bilder und Geschichten davon gingen um die Welt, Zeitungen schickten Reporter nach Polen. Auch schrieben die Vertriebenen an Angehörige über ihr desolates Schicksal.

So erhielt am 3. November 1938 ein Jude in Paris eine Postkarte aus Zbaszyn. Sein Name: Herschel Grynszpan, 17. Seine Schwester Berta schilderte ihm die Ausweisung der Familie aus Hannover; nur wenige Kleidungsstücke habe sie nach langem Bitten in einen Koffer packen können. "Das ist alles, was ich retten konnte. Wir haben keinen Pfennig." Berta flehte: "Könntest du nicht etwas für uns nach Lodz schicken?"

Attentat als Vorwand für die "Kristallnacht"

Der Hilferuf muss Herschel in große Erregung versetzt haben. Denn er war ein "Hitzkopf", wie ihn sein Biograf Armin Fuhrer charakterisiert, "leicht bereit zu unüberlegten Handlungen"; zudem verzweifelte er an seiner eigenen Lage. 1936 hatte der Junge sein Elternhaus in Hannover verlassen und Aufnahme bei einem Onkel in Paris gefunden, aber nie richtig Fuß gefasst. Zudem waren im August 1938 seine Ausweispapiere ungültig geworden; von nun an hielt Herschel sich illegal in Frankreich auf.

Aufgewühlt und voller Zorn kaufte Herschel einen Revolver, am Morgen des 7. November 1938 in einem Pariser Laden. Als er am Empfang der deutschen Botschaft in der Rue Lille sagte, er wolle ein Dokument überreichen, geleitete man ihn ins Büro des Legationssekretärs Ernst vom Rath, 29. Herschel zog die Waffe aus der Manteltasche und schoss fünfmal auf den Diplomaten, zwei Kugeln trafen. Vom Rath wurde in eine nahe Klinik gebracht. Herschel ließ sich widerstandslos festnehmen.

Video: "Geht nicht auf die Straße, die Synagogen brennen"

SPIEGEL ONLINE

"Ich konnte nicht anders tun, soll Gott mir verzeihen, das Herz blutet mir, wenn ich von eurer Tragödie und 12.000 anderer Juden hören muß. Ich muß protestieren, das die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun, entschuldigt mir", hatte er auf eine nicht abgeschickte Karte an seine Eltern gekritzelt. Unterdessen verschlechterte sich vom Raths Zustand, er starb am Nachmittag des 9. November.

Dieser "Märtyrer" kam den Nazis gerade zupass. Am selben Tag hatte sich die Parteiführung in München zu einer Jubelveranstaltung versammelt, ins Treffen platzte die Todesmeldung aus Paris. Hitler und Goebbels steckten die Köpfe zusammen, der "Führer" verschwand bald, der Propagandaminister hielt eine antisemitische Hetzrede. Grynszpans Attentat lieferte ihm einen willkommenen Vorwand, endlich gegen die Juden losschlagen zu können.

Die Pläne für eine solche Gewaltaktion geisterten schon lange in den Köpfen der Fanatiker. So erreichte von München aus die Anweisung landesweit die Volksgenossen zum sofortigen Einsatz. In dieser Nacht des Terrors auf den 10. November brannten in Deutschland die Synagogen, wurden Juden getötet, geschlagen und gequält, Läden geplündert und zerstört. Zur berüchtigten "Kristallnacht" schrieb Goebbels zynisch in sein Tagebuch: "Jetzt rast der Volkszorn. Laufen lassen."