Der Soziologe Dieter Rucht ist einer der renommiertesten Protestforscher Deutschlands. Er war Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität und Leiter einer Forschungsgruppe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, heute ist er Mitglied im Vorstand des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Rucht hat über die Umweltbewegung und die Proteste gegen Stuttgart 21 ebenso geforscht wie über Occupy und Pegida. Hier versucht er eine frühe Beschreibung der neuen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland.

Vielleicht lag es am regnerischen Wetter, vielleicht ist der erste Höhepunkt tatsächlich schon überschritten: Die noch immer neuen Proteste gegen die Corona-Politik der Regierung sind an diesem Wochenende erstmals deutlich kleiner ausgefallen als zuvor, insbesondere in Süddeutschland. Vorbei sind sie aber nicht, und auch ein erneutes Anwachsen ist möglich. Deshalb verdienen sie eine genauere Betrachtung. Auch wenn definitive Aussagen noch nahezu unmöglich sind.

Wer demonstriert?

Es gibt derzeit keine empirische Untersuchung zu denen, die sich auf den Straßen und Plätzen der Republik versammeln, um ihren Unmut im Zeichen der Corona-Krise kundzutun. Der Augenschein, das wissen wir aus Untersuchungen zu früheren Protesten, bei denen sich angeblich ein Querschnitt der Gesamtbevölkerung versammelte, kann trügen. Jedoch lassen die Sprüche auf Plakaten und Bannern, die Rufe und Slogans, die Reden und die Kommunikation im Netz Rückschlüsse zu. Gleiches gilt für eine Reihe von Personen, die zumindest Insidern bekannt sind oder deren Profil journalistische Recherchen erhellt haben. Wie heterogen die versammelte Menge ist, kann eine schlichte Aufzählung verdeutlichen. Von neugierigen Zaungästen abgesehen handelt es sich um fünf Gruppen:

  • Personen, die durch die Corona-Auflagen massiv betroffen sind, etwa Solo-Selbstständige, Kleinunternehmer, aber auch Alleinerziehende,
  • Personen, die die Gefahr durch Corona für inexistent oder zumindest extrem übertrieben halten,
  • bereits bestehende Gruppen mit Spezialanliegen, darunter Tierschützer, Impfgegner und Kritiker von "Elektrosmog" und Funkmastanlagen, die ein Publikum suchen,
  • Esoteriker und Verschwörungsgläubige mit abenteuerlichen Ansichten über die Herrscher dieser Welt, über Strahlen aus dem All, über die Quelle aller Übel einschließlich Corona,
  • linke und rechte politische Publizisten auf der Suche nach Abnehmern für ihre Schriften (z.B. "Demokratischer Widerstand"); weiterhin Rechtspopulisten und Rechtsradikale, die ganz generell und nun auch wegen der Corona-Maßnahmen gegen "die politische Klasse" zu Felde ziehen (u. a. Sympathisanten von Pegida, Identitärer Bewegung, Reichsbürger oder der Cottbuser "Zukunft Heimat", weiterhin Anhänger und Vertreter rechter Parteien (AfD, NPD, Der III. Weg)).

Diese Gruppen versammeln sich anlässlich des Corona-Themas, haben aber abgesehen von Unmutsbezeugungen kaum Gemeinsamkeiten.

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Was wollen sie?

Mit der Auflistung der demonstrierenden Gruppen ist bereits ein Teil der Forderungen und Inhalte benannt. Manche Positionen haben nicht die geringste Verbindung zu Corona. Andere versuchen, eine solche Brücke zu schlagen. Und den Spezialisten fürs Grundsätzliche geht es um die Rettung der Welt, eine bestimmte weltanschauliche Mission oder auch die Demokratie schlechthin.

Ebenso wie die expliziten Forderungen ist auch die Symbolik des Protests teilweise widersprüchlich. Da finden sich Plakate "gegen Nazis" neben rechter Ikonografie, Kritiker neben Verteidigern des Grundgesetzes. Im Einzelnen, und ohne dies allen Protestierenden zuzuordnen, sind bemerkenswerte Aussagen und Slogans zu registrieren: "Covid 1984", "Nicht mit uns", "Wir sind das Volk", "Volksverräter"; "Wir sind nicht die Sklaven der Diktatur Angela"; "gleichgeschaltete Presse", "Demokratiesimulation", Bürger gegen das "Notstandsregime" und den heraufziehenden "Faschismus". Vieles davon erinnert an die Pegida-Demonstrationen, deren Fokus, die behauptete "Islamisierung des Abendlandes", inzwischen seine Anziehungskraft verloren hat.

Auffällig ist erneut die Ost-West-Differenz. Bei den (tendenziell größeren) Protesten in den westdeutschen Bundesländern sind rechte Gruppen und Parolen eher eine Randerscheinung. Manche Veranstalter grenzen sich ausdrücklich von ihnen ab. In den ostdeutschen Bundesländern dagegen bestimmen eher Rechtspopulisten und Rechtsradikale das Erscheinungsbild der Corona-Proteste oder treten gar als Veranstalter auf. In Berlin gaben am 23. Mai die Reichsbürger ihr Corona-Debüt mit einer eigenen, allerdings sehr überschaubaren Kundgebung.

Was hält all diese Auftritte zusammen? Einerseits ist es der äußere Anlass und Rahmen: Corona und die damit verbundenen gesetzlichen und amtlichen Einschränkungen. Sofern sich ein inhaltlicher politisch-ideologischer Nenner abzeichnet, so ist es die generelle Unzufriedenheit mit denen "da oben", deren Unfähigkeit und Immoralität sich nun auch in der Handhabung der Corona-Krise zeige. Dieser Nenner ist Rechtspopulismus.

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Wie protestieren sie?

Am Anfang stand wohl die inzwischen routinierteste "Hygienedemonstration" vor der Berliner Volksbühne mit rund 40 Teilnehmenden am 28. März dieses Jahres. Eine außergewöhnlich hohe Beteiligung mit rund 5.000 Menschen (laut Polizeiangaben) wurde am 9. Mai in Stuttgart verzeichnet. In der Folgewoche sind die Teilnehmerzahlen in Stuttgart und München noch leicht gestiegen, in Berlin dagegen bereits gesunken. Bis Mitte Mai hatten sich die Proteste auch in der Fläche ausgedehnt und fanden nun selbst in kleineren Städten statt. Am vergangenen Wochenende (23./24. Mai) allerdings sind die Zahlen, teils auch bedingt durch das Regenwetter in Süddeutschland, stark zurückgegangen. Einzelne Veranstaltungen, so in München, fielen buchstäblich ins Wasser.

Das Erscheinungsbild der Veranstaltungen ist uneinheitlich. Einzelne Proteste erfolgen unter bewusster Missachtung eines erteilten Demonstrationsverbotes. Andere verletzen im Eifer des Gefechts oder in gezielter Provokation einzelne Auflagen, zum Beispiel eine Begrenzung der Zahl der Demonstrierenden oder das Gebot, einen Mindestabstand einzuhalten. Bei der Mehrheit der Versammlungen werden die Auflagen penibel beachtet.

Angesichts dieser Bandbreite fallen auch die Reaktionen der Polizei unterschiedlich aus. In Berlin und anderswo wurden seit dem 8. Mai unangemeldete oder regelwidrige Kundgebungen aufgelöst. In München und Stuttgart kapitulierte die Polizei angesichts der großen Zahl von Demonstrierenden und verzichtete auf Interventionen, um die Situation nicht anzuheizen. An wiederum anderen Orten wurden Personen, die Auflagen ignorierten, herausgegriffen, vorübergehend festgenommen, identifiziert und teilweise auch strafverfolgt.

Die meisten Kundgebungen verlaufen reibungsarm oder reibungsfrei. Bemerkenswert sind einzelne massive Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten am Rande von Kundgebungen. In Einzelfällen, so bei einer geplanten Demonstration von Anwälten und Verwaltungsrechtlern in Hamburg, ergab sich bereits im Vorfeld ein juristisches Tauziehen, bei dem das Demonstrationsverbot schließlich für rechtens erklärt wurde.

Zunehmend werden die Corona-Demonstrationen von Gegenprotesten begleitet, deren Größe an einigen Orten, so zuletzt in Bremen und Erfurt, an die der regierungskritischen Veranstaltungen heranreicht oder diese sogar übertrifft. Mancherorts, vor allem in Berlin, wo Dutzende von kleineren Protesten gleichzeitig stattfinden, ist das Geschehen so unübersichtlich geworden, dass einzelne Protestwillige von anfänglichen Problemen berichten, sich auf die richtige Seite zu schlagen. 

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Wie reagiert die Öffentlichkeit?

Pauschale Charakterisierungen der Demonstrierenden sind nicht angemessen. Differenzierung ist geboten, auch wenn bei manchen Beobachtern das Blut in Wallung geraten mag. Eine seriöse Protest- und Bewegungsforschung sollte sich mit schnellen Urteilen über die Corona-Proteste zurückhalten. Unpassend sind jene massenpsychologischen Deutungen, die ihre Blütezeit eher zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten. Demnach folge die Masse, analog zu Schafen, einem instinktgeleiteten Herdentrieb. "Die Masse ist der Sklave ihrer Impulse" (Gustave Le Bon). Die Einzelnen schalteten im Verbund der Masse ihren Verstand aus, steckten sich wechselseitig mit ihren Emotionen regelrecht an – ein Prozess, der von Agitatoren befeuert und instrumentalisiert werde. Solche Deutungen sind mit Blick auf eine vermutlich kleine Minderheit der Demonstrierenden nicht völlig abwegig, aber sie treffen nicht auf die Gesamtheit der gegenwärtigen Corona-Demonstrationen zu. Alle Beteiligten dennoch in dieses Licht zu rücken, hieße, selbst der rechtspopulistischen Neigung nachzugeben, Ambivalenzen und Zwischentöne zugunsten eines Schwarz-Weiß-Bildes abzuwehren.

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Warum gerade in Deutschland?

Ähnlich gelagerte Proteste gegen vermeintlich unzumutbare Einschränkungen gab es auch in den USA – mit Beifall und Ermutigung durch den dortigen Präsidenten. Kleinere Kundgebungen wurden zudem in Polen, Frankreich und Österreich, neuerdings auch in Spanien registriert. Dass es aber gerade in Ländern wie Italien und Großbritannien so gut wie keine solcher Proteste gab, liegt wohl vor allem daran, dass dort das Krisengeschehen so schnell dramatisch und so hautnah erfahrbar wurde, dass massive Restriktionen des Alltagslebens – weitgehend gebilligt von allen Parteien – in Kauf genommen wurden und werden, um noch Schlimmeres zu verhüten.

In Deutschland dagegen scheint gerade der relative Erfolgs des Krisenmanagements, das eine große Mehrheit der Bevölkerung positiv bewertet, bei einer Minderheit der Bevölkerung die Ansicht zu nähren, die Krise sei entweder von den Fachleuten und verantwortlichen Politikern und Politikerinnen übertrieben worden oder aber bereits so gut wie eingedämmt. Somit werden anhaltende Restriktionen als Zumutung empfunden.

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Wie geht es weiter?

Der Zulauf zu den Protesten stagniert oder ebbt bereits ab. Diejenigen, die konkret wegen des Umgangs der Regierenden mit den Corona-Krise auf die Straße gegangen sind, werden in dem Maße den Protesten fernbleiben, wie die Auflagen gelockert werden. Damit erlahmt die Emphase und versiegt der Zustrom. Ein zweite und womöglich noch größere Welle der Pandemie, so steht zu befürchten, würde dagegen nach einer ersten Schockstarre die Proteste anheizen und bei den dort Beteiligten den Eindruck verstärken, die Politik versage auch angesichts dieser Herausforderung.

Von diesem stark von externen Faktoren beeinflussten konjunkturellen Protestgeschehen zu trennen, ist die Existenz und Beständigkeit rechtspopulistischer und rechtsradikaler Gruppierungen, die neue Anlässe suchen und auch finden werden, um die eigene Mission voranzubringen. Dieses Geschäft der politischen Agitation ist inzwischen hoch professionalisiert und sollte nicht unter der Rubrik irrlichternder Verschwörungsgläubiger abgeheftet werden. Vielmehr ist es eine zweckrationale politische Strategie, die ernst zu nehmen und zu bekämpfen nicht nur ein Gebot der Stunde, sondern der nächsten Jahrzehnte sein sollte.

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