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Demonstrationen gegen Corona-Schutzmaßnahmen "Rechte Narrative dominieren die Proteste"

Rechtsextreme versuchen, die Demonstrationen gegen Corona-Regeln zu kapern. Der Soziologe Matthias Quent erklärt, wie sie dabei vorgehen - und wohin das führen könnte.
Ein Interview von Timo Lehmann
Teilnehmer einer Corona-Demonstration im sächsischen Pirna (am 6. Mai)

Teilnehmer einer Corona-Demonstration im sächsischen Pirna (am 6. Mai)

Foto: Robert Michael/ dpa

SPIEGEL: Herr Quent, es werden immer mehr Lockerungen der Corona-Maßnahmen angekündigt. Dennoch wird weiter gegen die Regeln protestiert, auch an diesem Wochenende. Was treibt die Menschen auf die Straße?

Matthias Quent: Die individuellen Motive sind heterogen. Problematisch sind diejenigen, die derzeit das öffentliche Bild der Proteste dominieren: Vielen dieser Gruppen geht es nicht vorrangig um die Corona-Beschränkungen. Vielmehr werden sie als Vorwand genutzt, um grundsätzliche Anliegen auf die Straße zu tragen, die sie schon davor hatten.

SPIEGEL: Nämlich?

Quent: Vieles von dem, was da jetzt gefordert oder vertreten wird, findet in verschwörungsideologischen und rechtsradikalen Kreisen schon lange statt und wird vor allem in sozialen Medien angeheizt. Da sind noch viel mehr Menschen in entsprechenden Gruppen unterwegs, als jetzt auf den Straßen waren. Viele Teilnehmende protestieren gegen eine angebliche Diktatur. Sie protestieren gegen das Impfen, gegen Merkel und Spahn, gegen „die da oben“, sie personalisieren Globalisierungskritik und Antisemitismus, sie positionieren sich grundsätzlich gegen Politik, Medien und Wissenschaft. In den Protesten brechen sich Ideologien demokratieferner Milieus Bahn und treffen auf offene Ohren und fehlende Abgrenzung.

SPIEGEL: Welche Rolle spielen Rechtsextreme bei diesen Demonstrationen?

Quent: Sie sind relevanter Teil dieser Proteste, die sich aber lokal unterscheiden. In Pirna, Aue, Chemnitz und Cottbus waren es rechtsradikale Gruppen, die die Demos initiiert haben, aber auch in Westdeutschland sind sie überall präsent. Es gab frühzeitig einen Aufruf von Martin Sellner von der Identitären Bewegung, die Proteste zu vereinnahmen. Ebenso von Jürgen Elsässer, dem Chefredakteur des rechtsradikalen Magazins Compact. AfD-Mitglieder und Pegida-Demonstranten mischen sich in viele Gruppen, ohne sich zu erkennen zu geben.

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SPIEGEL: Ist die Vereinnahmung von rechts also bereits gelungen?

Quent: Zumindest sehen wir, dass rechte Narrative, Symbole und rechte Verschwörungsmythen die Proteste dominieren. Die Proteste werden vereinnahmt, um zu behaupten, „das Volk“ erhebe sich nun endlich.

SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Quent: Zum Beispiel gab es in Nordhausen in Thüringen und auch im sächsischen Chemnitz und Cottbus sogenannte Spaziergänge. Aufnahmen der Demonstrationen wurden von rechtsradikalen YouTubern ins Netz gestellt und es wird suggeriert: „Schaut, das Volk erhebt sich.“ Es wirkt in den Bildern allein durch die Inszenierungen der rechten Gruppen, als seien die Teilnehmenden lediglich das Fußvolk der Rechtsradikalen – völlig unabhängig von ihren tatsächlichen individuellen Motiven.

"Rechte Narrative, Symbole und Verschwörungsmythen dominieren die Proteste."

SPIEGEL: Was können Demonstranten, die nicht rechtsextrem sind und die womöglich tatsächlich nur pure Existenznot auf die Straße treibt, dagegen tun?

Quent: Die Demonstranten müssen sich klar von Rechtsradikalen distanzieren. Es wäre einfach, eine eigene Veranstaltung anzumelden und sich dabei gegen Antisemitismus und von der AfD abzugrenzen. Es passiert vielfach nicht, weil die, die sich kritisch positionieren, als "Spalter" angegriffen werden.

SPIEGEL: Auf den Demos selbst findet also keine klare Distanzierung statt – verschwimmt da die Grenze zwischen Rechtsaußen und bürgerlicher Mitte?

Quent: Diese Grenze ist längst verschwommen, da sind die Straßenproteste nur die Spitze des Eisbergs. Meine Sorge ist, dass sich die Normalisierung von Antisemitismus, Rechtsradikalen, Irrationalismus und Hass in einer kommenden Wirtschaftskrise in noch größerem Umfang rächen wird.

SPIEGEL: Kann sich daraus eine eigene Partei entwickeln?

Quent: Keiner weiß, was kommt, aber ich halte das für eher unwahrscheinlich. Es sind viele Selbstdarsteller mit diffusen Motivlagen dabei, die sich wohl kaum auf ein Parteiprogramm einigen können.

SPIEGEL: Könnte die AfD von den Protesten profitieren?

Quent: Das halte ich für wahrscheinlicher. Sie hat dazu die Strukturen und Narrative. Die AfD hat bereits eigene Demonstrationen angekündigt und versucht, die Verunsicherungen zu kanalisieren.

SPIEGEL: Welche Rolle spielte das Thema Gesundheit bisher in der rechtsextremen Szene?

Quent: Ein extremer faschistischer Körperkult, der auf Reinheit, Natürlichkeit und Biologismus abzielt, gehört schon immer zum Rechtsradikalismus, ebenso Verbindungen zwischen Anthroposophie, Esoterik, Antisemitismus und Rassismus. Es gibt eine Haltung gegen die Eingriffe der äußeren und modernen Welt auf den (Volks-)Körper, dazu gehört auch das Impfen. Propagiert wird die „natürliche Auslese“ – eugenisch gemeint, dass nur der Stärkere überlebt, auch Krankheiten. Das war ein Kern nationalsozialistischer Ideologie. Auch in der gesellschaftlichen Mitte werden Krankheiten gruppenbezogen menschenfeindlich aufgeladen. Es gab eine starke rassistische und homophobe Aufladung des HI-Virus. Auch Judenfeindschaft gehörte immer dazu, etwa beim Zikavirus oder schon bei der Pest im Mittelalter. Heute stellt diese politisierte Esoterik auch eine Brücke zwischen Rechtsaußen, Esoterik und verkürzter Globalisierungskritik dar.

"Es wird von der größten Wirtschaftskrise seit 1929 gesprochen. Wir wissen, was damals passiert ist."

SPIEGEL: Inwiefern?

Quent: Berechtigte Kritik, beispielsweise über Monopolisierung und globale Produktionsketten, die Staaten in Konkurrenz setzen und erpressbar machen oder vor Nebenwirkungen von Impfungen und Medikamenten, wird im Verschwörungsdenken zum Teil eines finsteren Plans. Verschwörungsideologen glauben dann an extrem kohärente, globale Kontrollstrukturen einer kleinen Gruppe wirtschaftlich einflussreicher Personen ¬– derzeit vor allem Bill Gates, vor Corona war es Georg Soros. Von da aus ist es nicht weit zum Antisemitismus der Vorstellung über eine jüdische Weltverschwörung.

SPIEGEL: In Pirna wurden Polizisten angegriffen, auch in Berlin gab es Rangeleien und Angriffe auf Journalisten. Wie aggressiv sind diese Demonstranten?

Quent: Auch hier ist das Spektrum diffus. Bei einem Teil gibt es ein hohes Gewaltpotenzial, selbst Anschläge werden im Netz diskutiert. Andere betonen die Gewaltlosigkeit und beziehen sich auf Gandhi.

SPIEGEL: Glauben Sie, die Proteste könnten noch größer werden? Am Wochenende werden in manchen Städten wie Stuttgart oder München Tausende Menschen erwartet.

Quent: Tatsächlich waren die Teilnehmerzahlen bisher eher noch gering, wenn man sie beispielsweise mit „Unteilbar“, Protesten gegen Polizeiaufgabengesetze oder für soziale Wohnungspolitik vergleicht, die viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit erreicht haben. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist mit der Politik zufrieden, und die Unionsparteien stehen in Prognosen so gut da wie seit Jahren nicht. Auffällig ist, dass die Interessengruppen, die wirklich negativ betroffen sind von der Coronakrise, sich diesen Protesten nicht anschließen.

SPIEGEL: Wer zum Beispiel?

Quent: Dazu gehören zum Beispiel Frauenverbände, denn Frauen droht eine Retraditionalisierung, Pflegekräfte, Freiberufler oder Gewerkschaften. Proteste könnten sich im Zuge der wirtschaftlichen Verwerfungen oder einer zweiten Welle verstärken. Es wird von der größten Wirtschaftskrise seit 1929 gesprochen. Wir wissen, was damals passiert ist. Es droht ein Aufstieg der Rechten. Wahrscheinlich werden wir aber auch neue linke Bewegungen sehen.

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