Die Pharmabranche ist nicht alleiniger Innovationstreiber, sagt Gesundheitswissenschafterin Claudia Wild im Gastkommentar. Sie fordert eine verpflichtende Offenlegung der Geldflüsse und Kosten entlang der Wertschöpfungskette.

So kann es nicht weitergehen: Die risikoreiche Grundlagenforschung wird von der öffentlichen Hand getragen. Das so erworbene Wissen nutzen dann die Pharmafirmen.
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Wir können es fast täglich in diversen Medien lesen oder hören: Die rasche Entwicklung von Impfstoffen wurde durch privates Risikokapital ermöglicht. Wir verdanken mutigen Investoren, dass irgendwann ein Ende der Pandemie durch ausreichende Impfstoffe in Sicht ist. Derartige Narrative tragen zum Mythos bei, dass die Pharmaindustrie nicht nur alleiniger Innovationstreiber ist, sondern aufgrund der hohen und riskanten Ausgaben für Forschung und Entwicklung auch das Recht auf hohen Profit hat. Mythen werden aber nicht wahrhaftiger durch permanente Wiederholung, sie können nur durch Aufklärung entzaubert werden. Der Ruf nach einer aufklärerischen Entzauberung dieses Mythos ist seit langem vor allem von zivilgesellschaftlichen Gruppen zu hören.

Akademischer Ausverkauf

Covid-19 hat die dramatische Fehlentwicklung des Ausverkaufs akademischer Forschungsergebnisse allzu offensichtlich gemacht: An der mRNA-Technologie wird seit Jahrzehnten an öffentlichen akademischen Institutionen mithilfe hoher öffentlicher Forschungsausgaben geforscht. Nur weil diese Technologieplattform bereits erforscht war, konnten in derart großer Geschwindigkeit mRNA-Impfstoffe (Biontech/Pfizer, Moderna) entwickelt und gegen Covid-19 in die reale Anwendung gebracht werden. Die Forschung wurde vornehmlich an US-Universitäten durchgeführt, mit Geldern des National Institute of Health (NIH) finanziert und an das Biotech-Unternehmen Cellscript verkauft, das sie um je 75 Millionen US-Dollar an Biontech und Moderna weiterverkaufte. Pfizer erwartet Profite von 3,6 Milliarden US-Dollar allein in diesem Jahr.

Mit Steuergeld finanziert

Dieses Muster, dass der Großteil der risikoreichen Grundlagenforschung öffentlich getragen wird, dann aber – ohne Konditionen – die Erkenntnisse verkauft und die Gewinne bedenkenlos privatisiert werden, um danach zu überhöhten Preisen ebendiese Medikamente wieder einzukaufen, zieht sich wie ein roter Faden durch andere innovative Arzneimittelentwicklungen der vergangenen Jahre, seien das die Hepatitis-C-Medikamente, die Therapie für Spinale Muskelatrophie oder CAR-T-Zelltherapien. Diese gravierenden Systemfehler wurden in der Pandemie nun allzu deutlich.

Lösungsansätze, diese Fehlentwicklung zu korrigieren, liegen auf dem Tisch. Die Pandemie könnte als Katalysator dienen, einen seit langem diskutierten Paradigmenwechsel einzuläuten. Die Transformation eines "faulen" Forschungs-, Entwicklungs- und Vermarktungssystems könnte gelingen, sofern Politiker und Politikerinnen endlich den Mut haben, zu agieren. Lösungsansätze werden auf Konferenzen, in politischen Zirkeln, wie etwa während der österreichischen EU-Präsidentschaft, seit Jahren diskutiert.

Jetzt Zeichen setzen

In der Pharmastrategie der Europäischen Kommission zu den Triple-A-Problemfeldern "Affordability, Availability and Access" werden die zahlreichen Systemfehler zwar nur indirekt thematisiert, die der Strategie zugrunde liegenden Gutachten etwa zur Lockerung des Patentschutzes und die entsprechende Roadmap zur regulatorischen Umsetzung lassen aber erkennen, dass das Problembewusstsein auch auf höchster EU-Ebene angekommen ist. Selbst US-Präsident Joe Biden setzt sich für eine (vorübergehende) Außerkraftsetzung des Patentschutzes ein. Das sollte zu denken geben!

Die Möglichkeiten, jetzt nachhaltige Zeichen zu setzen, gestalten sich mannigfaltig: Angefangen bei der Verlagerung von Forschungsprioritäten auf Public-Health-relevante Themen, wo auch nichtmedizinische Interventionen Beachtung finden, über rechtliche Auflagen bei öffentlicher Forschungsförderung bis hin zur Verlagerung der Produktion von wichtigen medizinischen Produkten zurück nach Europa. Weitere regulatorische Ansätze sind eine Reregulierung und Flexibilisierung des Patentschutzes, denn dieser dient häufig als Rechtfertigung für eine exzessive Preispolitik; er ist aber keineswegs immer innovationsfördernd. Neue Modelle zur Entwicklung von Arzneimitteln mit definierten Zielen und Meilensteinzahlungen bei der Entwicklung – etwa neue, dringend gebrauchte Antibiotika – und vorab festgelegte Konditionen zum Marktzugang, ebenso wie eine vollkommene Entkoppelung der Arbeitsschritte und deren Abgeltung in der Wertschöpfungskette – wie in anderen Branchen längst gelebt – werden weltweit debattiert.

Einmalige Meilensteinzahlungen

Die Arbeitsschritte mit abnehmendem Risiko sind: Grundlagenforschung zur Entdeckung neuer Wirkstoffe oder Technologieplattformen (wie die mRNA-Plattform), (lizenzfreie) Patentierung des neuen Wirkstoffes oder der Technologie, präklinische Weiterentwicklung und Optimierung, klinische Studien am Menschen zur Dosisfindung und Überprüfung der Wirksamkeit, Zulassung und Vermarktung. Jede dieser Phasen könnte entkoppelt und mit Meilensteinzahlungen einmalig abgegolten werden, sodass die handelnden Firmen Einnahmen haben, das Resultat aber lizenzfrei und zu realen Kosten eingesetzt werden kann. Eine kostenintensive Vermarktung erübrigt sich.

De facto werden einzelne Schritte schon heute von unterschiedlichen Institutionen durchgeführt, Pharmafirmen haben Patent-Scouts, die sowohl die akademische Forschung wie jene in kleinen Biotech-Start-ups genau verfolgen und nur einkaufen, was erfolgversprechend erscheint. Somit werden die Risiken reduziert, die Gewinne aber privatisiert.

Schritt der Aufklärung

Die verpflichtende Offenlegung der Geldflüsse und Kosten entlang der Wertschöpfungskette – von kostenintensiver akademischer Grundlagenforschung zu Patenten, zu Kosten für präklinische und klinische Zulassungsstudien – ist der erste Schritt der Aufklärung zur Entzauberung des Mythos. Dieser Schritt ist aber auch notwendig, um den Platz der Pharmaindustrie in der Wertschöpfungskette zu erkennen: in der späten klinischen Entwicklung und in der Produktion von Arzneimitteln. Diese Investitionen sind auch entsprechend abzugelten. Nicht mehr und nicht weniger. (Claudia Wild, 14.5.2021)