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Nobelpreisträger Stiglitz »Bis die deutsche Seite ihre Position ändert, wird die Pandemie ungebremst wüten«

Der Ökonom Joseph Stiglitz fordert von der Bundesregierung, die Patentfreigabe für Coronaimpfstoffe nicht länger zu blockieren. Deutschland nehme »die ganze Welt als Geisel«, Merkel riskiere ihr politisches Vermächtnis.
Stiglitz bei Weltwirtschaftsforum in Davos 2017: Harsche Kritik an deutscher Regierung

Stiglitz bei Weltwirtschaftsforum in Davos 2017: Harsche Kritik an deutscher Regierung

Foto: Gian Ehrenzeller/ AP

Der frühere Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, fordert die Bundesregierung dazu auf, vorübergehend die Patente der in Deutschland entwickelten Coronaimpfstoffe auszusetzen. Es bedürfe »einer Aushebelung des ganz bewusst undurchdringlich gestalteten Netzes von Patenten, Urheberrechten, Geschäftsgeheimnissen«, schreibt Stiglitz in einem Gastbeitrag für die »Zeit«. Dies sei nötig, um die Impfstoffproduktion hochfahren zu können, »die Weltbevölkerung adäquat schützen zu können und die Ausbreitung des Virus zu stoppen«, insbesondere in ärmeren Ländern.

Mehr als hundert meist ärmere Staaten, angeführt von Indien und Südafrika, fordern, den Patentschutz für Coronaimpfstoffe auszusetzen. Dadurch könnten Hersteller in aller Welt die Impfstoffe ohne Lizenzgebühren produzieren. Die USA unterstützen diesen Vorstoß, die Bundesregierung und andere EU-Staaten setzen dagegen eher auf die Belieferung ärmerer Länder mit fertigem Impfstoff. Dieser Dissens ist erst vor wenigen Tagen auf dem G7-Gipfel wieder deutlich geworden.

Wirtschafts-Nobelpreisträger Stiglitz argumentiert in seinem »Zeit«-Gastbeitrag, dass längst die meisten Industrienationen einer Ausnahmeregelung zustimmten. Es sei aber »ausgerechnet die deutsche Regierung unter Führung von Angela Merkel«, die sich einer Lösung widersetze. Die »wirtschaftlichen Kosten dieser Starrköpfigkeit« würden enorm sein, »ganz zu schweigen von den Verlusten an Menschenleben«, so der Ökonom. »Mit seiner unbeugsamen Position stellt sich Deutschland auf die falsche Seite der Geschichte« und nehme »faktisch die ganze Welt als Geisel«.

Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca

Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca

Foto: Daniel Karmann / dpa

Insbesondere die Produzenten der besonders begehrten mRNA-Impfstoffe sind in der Debatte über die Patentfreigabe in den Fokus geraten, darunter das deutsche Unternehmen Biontech. Ob eine Freigabe tatsächlich dazu führen würde, dass rechtzeitig mehr Impfstoff zur Verfügung stünde, ist umstritten. Gegner der Freigabe argumentieren, dass die Herstellung sehr komplex sei und auch eine entsprechende Ausrüstung der Werke sowie viele Vorprodukte erfordere, die nur begrenzt hergestellt werden könnten. Hersteller aus verschiedenen Ländern geben jedoch an, zeitnah Impfstoffe produzieren zu können, wenn sie dürften.

Dass Entwicklungsländer nicht die Fähigkeit hätten, Covid-Impfstoffe zu produzieren, hält Stiglitz für eine Behauptung, die »durchaus rassistische und neokolonialistische Untertöne« enthalte. Deutschland müsse seine Haltung schnell überdenken. »Zumal die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel aktuell riskiert, ihren guten weltweiten Ruf und vielleicht sogar ihr politisches Vermächtnis in der Schlussphase ihrer 16-jährigen Amtszeit zu untergraben«, schreibt Stiglitz.

Die G7-Staaten haben beschlossen, bis Ende des kommenden Jahres 2,3 Milliarden Impfdosen an ärmere Länder abzugeben. Angesichts einer Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen halten einige Experten, auch Stiglitz, diese Zahl für bei Weitem nicht ausreichend. »Bis die deutsche Seite ihre Position ändert, wird die Pandemie ungebremst wüten«, so der Ökonom.

fdi
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