Vom inhaftierten Lesemuffel zum Musterschüler und Studenten

Ehrenamtliche Mitarbeit – Unterrichtsassistenz

2013 wurde ich von der Schule in der Haftanstalt Fuhlsbüttel angefragt, einen jungen Häftling, Herrn M. zu unterstützen, der aus der Anstalt heraus zunächst seinen Realschulabschluss anstrebte. Ich übernahm diese Aufgabe im Fach Deutsch. Drei andere freie MitarbeiterInnen übernahmen die Fächer Englisch, Frau Knöbel, und Mathematik, Frau Paulitsch und Herr Thier.

Wir trafen den jungen Mann einmal in der Woche in der Schule in Fuhlsbüttel zu getrennten Terminen, vorbildlich unterstützt von den beiden Lehrkräften der Schule. Arbeitsgrundlage waren die Arbeitshefte einer externen Schule. Die Unterstützung durch uns Lehrer war Voraussetzung für den Erfolg, da es sonst keinerlei Austausch für den Schüler gab. Unser Verhältnis war von Anfang vertrauensvoll und ergebnisorientiert, da M. im positiven Sinne ehrgeizig und pflichtbewusst war.

Ich zitiere aus einem Gutachten, das ich damals für die Staatsanwaltschaft erstellt habe:

Ich unterstütze Herrn M. schon längere Zeit in der Regel wöchentlich in diesem Fach, beginnend in der JVA Fuhlsbüttel. Herr M. arbeitet von Beginn an mit großer Zielstrebigkeit und Energie an diesem wie an anderen Fächern und hat dabei große Fortschritte erzielt. Er schickt alle Aufgaben rechtzeitig ein und bemüht sich um große Selbstständigkeit und Eigenständigkeit. Dabei hat er gezeigt, dass seine schulische Arbeit für ihn Priorität hat und er bereit ist, dafür andere Bedürfnisse mit Konsequenz zurückzustellen. Ein Einsatz, den ich mir bei manchem meiner Oberstufenschüler gewünscht hätte. 
Mit wachsendem Fortschreiten ist seine Arbeit u.a. mit aufwendigen Lektüre Arbeiten verbunden, mit einer Spanne von der Antike über die deutsche Klassik bis zur Gegenwart. Dies ist –auch angesichts seines Migrationshintergrundes -mit einem hohen Zeitaufwand und großen Anforderungen an die Konzentration verbunden. Dazu kommen aufwendige schriftliche Ausarbeitungen.

Die Situation wurde erschwert, nachdem er nach Glasmoor verlegt worden war, da seine Unterbringung in einem Mehrbettzimmer und die Anforderungen durch eine Berufstätigkeit wenig Raum zum Lernen ließen. Dabei verlor M. aber nie sein Ziel aus den Augen. In meinem Fall setzten wir den Unterricht zunächst in seiner alten Wohnung und dann bei mir zu Hause fort. Dadurch ergab sich auch ein positives Verhältnis zu meiner Frau, was fördernde Gespräche zu seiner Lebensplanung ermöglichte. Gleichzeitig entwickelte sich ein herzlicher Kontakt zwischen uns und seiner Familie, der zu zwei Einladungen in deren Wohnung führte. Das gleiche gilt für die anderen Unterstützer.

Ergebnis: 2015 konnte Herr M. seine externe Prüfung der Sekundarstufe I ablegen und die Berechtigung für den Besuch einer Fachoberschule erwerben, mit dem zweitbesten Ergebnis des Jahrgangs. Die regelmäßige Betreuung war für mich damit abgeschlossen. Die Unterstützung in Mathematik/Physik ging noch eine Zeitlang weiter.

Jetzt ist er Werkstudent an einer Fachhochschule im Fach Verfahrenstechnik. Das Studium steht vor dem erfolgreichen Abschluss. Gleichzeitig leistet er ein Praxissemester mit der Aussicht auf Übernahme ab. Als Abrundung der gemeinsamen Arbeit habe ich ihm bei der Korrektur seiner Bachelorarbeit in Hinblick auf sprachliche Korrektheit geholfen. Im Anschluss strebt er einen Abschluss als Master an.

Nachtrag: Das Ergebnis der Bachelor Arbeit liegt mittlerweile vor: 1.3. Das ist wahrlich eine stolze Leistung! Außerdem ist Herr M. mittlerweile für sein gewünschtes Masterstudium zugelassen. 

Verfasser: Walter Uchtenhagen, April 2021

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