Menschenrechte, Umwelt- und Klimaschutz vor Profit

Gemeinsam mit unseren Partner*innen bei Seattle to Brussels haben wir drei Grundsätze zur Neugestaltung von Handel und Investitionen zur Überwindung der Krise erarbeitet:

In kurzer Zeit  hat die Coronavirus-Pandemie die Karten der wirtschaftlichen Globalisierung grundlegend neu gemischt. Komplexe Versorgungsketten, internationale Arbeitsteilung und Just-in-time-Produktion haben in den letzten dreißig Jahren zugenommen. Ihre Dysfunktionalitäten sind jetzt eine Quelle der Krise, nicht der Widerstandsfähigkeit. 

Die Pandemie bringt die zugrunde liegende strukturelle Verwundbarkeit, die das Wirtschaftssystem für die Menschen und den Planeten mit sich bringt, deutlich zum Vorschein. Anstatt uns bei der Überwindung der Pandemie zu helfen, hat es das neoliberale Handels- und Investitionsregime angesichts unserer Abhängigkeit von großen und instabilen globalisierten Produktionsketten, schwieriger gemacht, auf diese Krise zu reagieren.

Dieses Problem wurde am Beispiel der Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) veranschaulicht, die nur in einigen wenigen Ländern hergestellt wurde und nicht verfügbar war, wo und wann sie am dringendsten benötigt wurde. Die Bemühungen um die Entwicklung und faire Verteilung eines Impfstoffs werden durch geistige Eigentumsrechte erschwert, die den Pharmakonzernen enorme Gewinne sichern, während die Kosten mit Steuergeldern bezahlt werden. Viele Notfallmaßnahmen, die von Regierungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit während der Pandemie ergriffen werden, laufen Gefahr, mit dem globalen Investitionsschutzregime in Konflikt zu geraten. Infolgedessen könnten Regierungen auf der ganzen Welt mit einer neuen Welle kostspieliger Konzernklagen vor internationalen Schiedsgerichten konfrontiert werden. 

Die Pandemie ist für gefährdete Teile der Bevölkerung besonders herausfordernd. . Die Menschen im globalen Süden sind besonders hart betroffen, da sie bereits jetzt unter den schmutzigen Praktiken multinationaler Konzerne, unbezahlbaren Schuldenlasten und den Folgen eines Klimawandels leiden, den sie nicht verursacht haben. Tatsächlich wird sich der Klimawandel noch weiter verschärfen, wenn die Wirtschaftspolitik der Regierungen keinen grundlegenden Kurswechsel vollzieht. Wir sind besorgt darüber, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten weiterhin auf mehr neoliberale Handels- und Investitionsabkommen drängen, wie z.B. das kürzlich abgeschlossene Abkommen zwischen der EU und Mexiko oder das heftig kritisierte EU-Mercosur-Abkommen. Jetzt ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und unser Handelsregime neu zu bewerten, anstatt den gleichen unhaltbaren Weg fortzusetzen, der bisher immer in die Irre führte. 

Im Jahr 2013 haben über 50 zivilgesellschaftliche Organisationen das alternative Handelsmandat in einem Aufruf zur Änderung des internationalen Handelssystems und der Handels- und Investitionspolitik der EU vorgelegt. Seitdem haben sich die Klima- und Umweltkrise dramatisch verschärft und die soziale Ungleichheit hat weiter zugenommen. Heute, inmitten einer weltweiten Pandemie, ist der Ruf nach dem alternativen Handelsmandat dringender denn je. In vielen Ländern schwindet die Unterstützung der Bevölkerung für die Vertiefung der Liberalisierung, da die Menschen ihre negativen Auswirkungen sowohl für sich persönlich als auch für die Gesellschaft und den Planeten erleben. Wir brauchen einen sofortigen Strukturwandel.

Das Seattle to Brussels Network ist der Ansicht, dass die folgenden drei Grundsätze die Reaktion der EU auf die vielfältigen Krisen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, leiten sollten:

Grundsatz I: 

Stopp und Neuausrichtung des gegenwärtigen Handels- und Investitionsregimes

Covid-19 ist nicht nur eine Gesundheitskrise. Die Pandemie legt die systemischen Mängel offen, die den verschiedenen Krisen, mit denen wir seit Jahren konfrontiert sind, Nahrung gegeben haben. Handels- und Investitionsabkommen, ob in bilateralen Abkommen oder im Rahmen der Welthandelsorganisation, haben eine große Rolle gespielt, indem sie den öffentlichen Sektor geschwächt, liberalisiert und seine Privatisierung gefördert haben. Die Lieferketten sind länger, komplexer und immer intransparenter geworden. Die Produktion wichtiger Güter, wie pharmazeutische und medizinische Ausrüstung, wurde an private Unternehmen ausgelagert. Gleichzeitig haben die Regelungen in Handels- und Investitionsabkommen die Position der Länder des globalen Südens als Rohstofflieferanten festgeschrieben, was ihre wirtschaftliche Diversifizierung behindert und ihre Abhängigkeit von Importen aus Industrieländern erhöht hat. Zunehmende internationale Handelsströme haben Vorrang vor dem Schutz der Menschenrechte und des Planeten. Deshalb rufen wir dazu auf: 

  • Alle bestehenden neoliberalen Handels- und Investitionsabkommen zu beenden und einen  Prozess zu beginnen, diese  durch Abkommen zu ersetzen, die ein nachhaltiges, klimafreundliches, umweltschonendes, menschen- und arbeitnehmerrechts-orientiertes Welthandelsmodell schaffen. 
  • Stopp aller laufenden Verhandlungen zu Handels- und Investitionsabkommen: Stopp der Verhandlung, Unterzeichnung und Ratifizierung neuer bilateraler neoliberaler Handels- und Investitionsabkommen.
  • Beendigung aller WTO-Abkommen, die die Patentierung von Medikamenten und Saatgut fordern und durchsetzen. 
  • Umstrukturierung aller internationalen Handelsinstitutionen, um dem Klimaschutz, einer gesunden Umwelt, den Menschenrechten, widerstandsfähigen, nachhaltigen Volkswirtschaften und einer stärkeren Stimme für den globalen Süden Priorität einzuräumen. 
  • Sicherstellung, dass neue Handelsregeln niemals das Recht auf staatliche Regulierung beeinträchtigen oder das Vorsorgeprinzip zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt behindern. 

Grundsatz II: 

Konnzernprivilegien beenden und der Straflosigkeit von Konzernen  Einhalt gebieten 

Das gegenwärtige neoliberale Handels- und Investitionsregime schränkt unsere Demokratien stark ein. Die Notfallmaßnahmen, die von den Regierungen in der Covid-19-krise ergriffen werden, könnten nach den Regeln des gegenwärtigen Investitionsschutzregimes angegriffen werden. Der Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten (Investor-State-Dispute-Settlement-Mechanism – ISDS), der Bestandteil vieler bilateraler Investitionsverträge ist, ermöglicht es transnationalen Konzernen, Länder wegen demokratischer Entscheidungen zu verklagen, die den Unternehmensgewinnen schaden könnten. ISDS ist für die Öffentlichkeit extrem kostspielig und bedeutet oft, dass Regierungen aus Angst vor den möglichen Kosten auf notwendige Maßnahmen verzichten. Maßnahmen zur Bewältigung der Klima- und Umweltkrise, einschließlich des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen, sind davon am häufigsten betroffen.   

Wir müssen eine globale Ordnung schaffen, die Gesellschaften nicht für demokratische Entscheidungen bezahlen lässt. Während unsere Demokratien durch ein System von Investitionsverträgen untergraben werden, ist es fast unmöglich, Konzerne für die Verstöße gegen Menschen- und Umweltrechte zur Rechenschaft zu ziehen, die sie in ihrem Streben nach immer höheren Profiten begehen. Demokratische Entscheidungen und Menschenrechte müssen Vorrang vor privaten Interessen haben, und die Straflosigkeit transnationaler Unternehmen muss beendet werden:

  • ISDS endgültig beenden und keine ISDS-Entscheidungen mehr anerkennen. Nachdem die Marke von mehr als 1.000 ISDS-Klagen erreicht wurde – was bis Ende 2018 zu Entschädigungszahlungen von Staaten an private Investoren in Höhe von mehr als 88 Milliarden US-Dollar geführt hat –, ist es an der Zeit, dieses System zu beenden, welches zum Nachteil der Menschen und der Umwelt NUR den Konzerninteressen dient. Anstatt den Unternehmen mehr Rechte und Geld zu geben, brauchen wir Geld, um unsere lokale Wirtschaft und unsere (Gesundheits-)Versorgungssysteme umzugestalten.
  • Schaffung eines verbindlichen Vertrags über Wirtschaft und Menschenrechte auf internationaler Ebene und eine Gesetzgebung zur Rechenschaftspflicht von Unternehmen auf nationaler und europäischer Ebene, um Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Menschen-, Sozial- und Umweltrechte verletzen. Diese Rechtsinstrumente müssen Sanktionsmechanismen enthalten, um sie wirksam durchsetzbar zu machen, und die gesamte Lieferkette einbeziehen.

Grundsatz III: 

Ökologische und soziale Regionalisierung und Kooperation statt neoliberaler Globalisierung und Konkurrenz

Statt den unhaltbaren neoliberalen Weltmarkt und die fremdenfeindlichen und nationalistischen Maßnahmen von immer mehr Regierungen aufrecht zu erhalten, sollten wir einen anderen Weg wählen: den der ökologischen und sozialen Regionalisierung, die auf starker internationaler Solidarität aufbaut. Das Ziel besteht nicht in der Rückverlagerung einiger strategischer wichtiger Fabriken, sondern darin, die Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund zu stellen, indem wir unsere Volkswirtschaften auf der lokalen Ebene verwurzeln und unter guten sozialen und ökologischen Bedingungen neu aufbauen. 

Dies erfordert, dass die Staaten, die lokalen Behörden und die Bevölkerung wieder über die legislativen, rechtlichen, steuerlichen und wirtschaftlichen Mittel verfügen, um über ihre Bedürfnisse und ihre Befriedigung ,  entscheiden zu können. Darüber hinaus müssen wir die Handels- und Investitionsregeln und -institutionen grundlegend umstrukturieren, um die Grundbedürfnisse (Gesundheit, Wohnen, Bildung, Zugang zu Wasser, Energie und Nahrung) zu schützen. Diese Prioritäten müssen bei Entscheidungen über die Bevorzugung lokaler Lieferanten berücksichtigt werden.  Regionalisierung bedeutet nicht, den internationalen Handels aufzugeben, sondern auf Komplementarität, Zusammenarbeit und Solidarität zu setzen. 

Das bedeutet: 

  • Regionalisierung und Vergesellschaftung der Produktion von Gütern, so weit das möglich und wo das ökologisch sinnvoll ist, bei gleichzeitiger Unterstützung der Länder des globalen Südens bei der Entwicklung ihrer eigenen Nahrungsmittelproduktion und Industrie. Dies wird die globale Widerstandsfähigkeit gegen interne und externe Schocks erhöhen. Insbesondere die Produktion von lebensnotwendigen Gütern, die täglich benötigt werden, sowie von Produkten, die zur Gewährleistung qualitativ hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen benötigt werden, muss so lokal wie möglich oder zumindest innerhalb der Makroregionen und auf der Grundlage der strikten Einhaltung der Sozial- und Arbeitsrechte erfolgen. 
  • Den öffentlichen Institutionen und der Bevölkerung muss es möglich sein, strategische Sektoren zu regulieren und von Handelsregeln auszunehmen, wobei den Grundbedürfnissen sowie nachhaltigen Arbeitsplätzen Vorrang eingeräumt werden sollte. Dies bedeutet auch, den Behörden zu gestatten, die Bevorzugung lokaler Lieferanten in ihrer öffentlichen Beschaffungspolitik zu verankern.  Wenn den lokalen Behörden das Recht eingeräumt wird, selbst zu entscheiden, wird das öffentliche Beschaffungswesen zu einem mächtigen Instrument, um regionale Wirtschaftskreisläufe entsprechend unserer Bedürfnisse zu unterstützen. 
  • Sozialisierung und Re-kommunalisiereung  öffentlicher Dienstleistungen. Gute und starke öffentliche Dienstleistungen, insbesondere öffentliche Gesundheitssysteme, können nicht nach der Logik der Gewinnmaximierung verwaltet werden. Handels- und Investitionsabkommen müssen alle öffentlichen Dienstleistungen ausklammern und den Menschen das volle Recht einräumen, sie demokratisch zu organisieren.
  • Beendigung von irrationalem, unnötigem Handel und Herstellung von Komplementarität. Redundanter Handel, d.h. der Austausch derselben Waren zwischen Ländern sowie der Transport von Lebensmitteln zur Verarbeitung in andere Länder und der anschließende Re-Import (geschälte Garnelen, gefrorene Kartoffeln…) tötet das Klima und muss beendet werden. Wir müssen das Prinzip der Komplementarität etablieren, das Importe aus der Ferne von Waren verhindert, die vor Ort produziert werden können, basierend auf den Grundsätzen der Ernährungssouveränität, Solidarität und Nachhaltigkeit.
  • Stärkung lokaler agroökologische Systeme, die das Klima und die biologische Vielfalt schützen. Die industrialisierte Landwirtschaft basierend auf  Abholzung, Monokulturen, genetisch verändertem Saatgut und riesigen Mengen an Pestiziden und Düngemitteln muss beendet werden. Sie zerstört die Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen und erleichtert den Ausbruch von Pandemien wie Covid-19. Die Handelspolitik muss lokalen agroökologischen Systemen auf der Grundlage starker Sozial- und Arbeitsrechte dienen.