Humanitäre Hilfe als Kampfmittel?

Autor*in: Ulrike von Pilar
Datum: 12. Juli 2022

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in einem Statement zum NATO-Gipfel Ende Juni 2022:

„Deshalb ist es nur richtig, dass die Staaten, die hier zusammenkommen, aber auch viele andere ihre Beiträge dazu leisten, dass sich die Ukraine verteidigen kann, mit finanziellen Mitteln, mit humanitären Hilfen, aber auch, indem wir Waffen zur Verfügung stellen, die die Ukraine dringend braucht.”

Die Ukraine soll sich mit deutscher humanitärer Hilfe verteidigen? Humanitäre Hilfe in einer Reihe mit Waffenlieferungen?

Noch schärfer hat es die estnische Ministerpräsidentin formuliert:

Sie sagte bei einem Besuch im April 2022 in Berlin, „die beste humanitäre Hilfe in diesen Tagen ist Militärhilfe für Kiew“.

Diese leichtfertigen Verkündigungen stechen ins Herz der Humanitären Hilfe – und aller humanitären Helfer*innen: Humanitäre Hilfe soll Leben retten im Krieg, und das auf allen Seiten, ohne Diskriminierung, und soll sich so weit wie möglich zuvörderst um die Bedürftigsten und Verletzlichsten kümmern. Humanitäre Hilfe ist ganz sicher kein Kampfmittel in einem Krieg – so etwas nonchalant zu formulieren, bringt die humanitäre Hilfe und die Helfer*innen in Gefahr. Und kann es ihnen unmöglich machen, umkämpfte Gebiete zu erreichen – oft mit der Folge, dass besonders Bedürftige keine oder zu wenig Hilfe bekommen.

Die humanitären Organisationen sind in dieser Hinsicht Kummer gewöhnt: Wann immer die deutsche Außenpolitik sich in den vergangenen Jahrzehnten in Konflikte oder Kriege verwickelt sah, flugs gab es eine entsprechende öffentliche Vereinnahmung der humanitären Hilfe:

Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck begründete 2003 fälschlicherweise die Stationierung deutscher Soldat*innen in Afghanistan u.a. damit, dass die humanitären Helfer*innen geschützt werden müssten.

Kaum eine humanitäre Organisation lässt sich von bewaffneten Militärs beschützen. Die Sicherheit der humanitären Helfer*innen beruht in den allermeisten Fällen auf dem Vertrauen der Konfliktparteien und der Bevölkerung, dass die geleistete Hilfe wirklich humanitär ist und sich die Helfer*innen nicht in den Konflikt einmischen, sich also neutral verhalten. Dieses Vertrauen und die für die Hilfe notwendige Akzeptanz zu erreichen, ist für eine ausländische Organisation schon schwer genug – auch ohne die Vereinnahmung durch politische oder militärische Akteure.

Nicht umsonst steht auf der Homepage des Auswärtigen Amtes zu den Prinzipien der humanitären Hilfe, zu denen sich das AA verpflichtet hat:

„Das Prinzip der Neutralität verbietet es, in Konfliktsituationen bestimmte Seiten zu bevorzugen oder für eine Seite Partei zu ergreifen. Die Wahrnehmung von Hilfsorganisationen als neutral ist entscheidend für die Sicherheit der Hilfeleistenden.

Das Prinzip der Unabhängigkeit zieht eine Trennlinie zwischen humanitären Zielen einerseits und politischen, militärischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Zielen andererseits. Der einzige legitime Zweck der humanitären Hilfe ist es, Leben zu retten und Leiden zu lindern.”

Besonders in Kriegssituationen, in die die deutsche Außenpolitik oder das Militär involviert sind, wird das immer wieder gerne vergessen. Während des Kosovo-Krieges 1999 zum Beispiel, als die Bundeswehr zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg bewaffnete Konfliktpartei war, mussten die humanitären Organisationen schwer darum kämpfen, ihre Unabhängigkeit vom Militär zu verteidigen. Der damalige Verteidigungsminister Scharping versuchte immer wieder, die Hilfsorganisationen in die politischen und militärischen Anstrengungen einzubinden. Gleichzeitig wurden militärische Verbände zu humanitären Helfer*innen deklariert und sollten Flüchtlingslager managen. Einige Politiker*innen gingen so weit, den Kosovo-Krieg einen ‚humanitären Krieg‘ zu nennen.

All dies in dem Bestreben, dem ungeliebten Einsatz deutscher Truppen einen ‚humanitären‘, einen ‚menschlichen‘ Anstrich zu geben – war dieser Kriegseinsatz der Bundeswehr doch hoch umstritten.

Vielleicht hat auch Bundeskanzler Scholz die humanitäre Hilfe in eine Reihe mit den Waffenlieferungen gestellt, um diese weniger militärisch, also weniger aggressiv erscheinen zu lassen– das ist ein altes Muster, auch in Afghanistan wurde der Einsatz der deutschen Soldat*innen immer wieder humanitär begründet.

Aber dem Ansehen der internationalen Hilfsorganisationen schadet das – vor allem ihrem Ansehen bei den Konfliktparteien, unter Umständen auch ihrem Ansehen bei der Bevölkerung in den Kriegsgebieten. Sie sollen möglichst auf allen Seiten des Konflikts den Bedürftigsten zu Hilfe kommen. Das bedeutet, sie müssen mit allen Parteien verhandeln können. Auch in diesem Krieg in der Ukraine. Wenn die Bundesregierung politisch und militärisch Position bezieht, heißt das noch nicht, dass deutsche oder internationale Hilfsorganisationen ebenfalls Position beziehen müssen, auch wenn das gelegentlich schwer fällt. Neutral zu bleiben ist harte und oft sehr undankbare Arbeit und allzu oft gelingt das auch gar nicht. Aktuell wird in vielen deutschen und internationalen humanitären Organisationen lebhaft diskutiert, wie weit man neutral bleiben kann angesichts des Horrors in der Ukraine. Lokale ukrainische Organisationen finden auf diese Frage sicher oft andere Antworten als ausländische Organisationen. Es geht aber zuallererst darum, auch schwer erreichbaren und verletzlichen Menschen beizustehen – auch da, wo die Kriegsparteien das unter Umständen als unerwünschte Einmischung empfinden, um sie dann davon zu überzeugen, dass es wirklich um humanitäre Hilfe geht. Einige dieser Organisationen arbeiten nach wie vor im Donbass oder auch in Russland, auch mit nationalen Mitarbeiter*innen. Eine politische Vereinnahmung kann ihnen und ihrer Arbeit nur schaden.

Die Neutralität ist kein Wert an sich, aber oft eine notwendige Haltung, um arbeiten zu können. Die Unabhängigkeit der humanitären Hilfe von politischen Vorgaben und Positionierungen jedoch ist essenziell wichtig.  Sie ist oft schwer erkämpft und ein lebenswichtiges Gut – nicht nur für die Organisationen selbst, sondern gerade auch für die unter dem Krieg leidenden Menschen. Das gilt auch und gerade für die Arbeit in der gesamten Ukraine und in Russland – und ganz besonders in Zeiten, wo fast jede*r eine dezidierte politische Position hat.

Das sollte aber bitte auch dem Bundeskanzler klar und wichtig sein.

Ulrike von Pilar ist Gründungspräsidentin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Deutschland. Sie war u.a. langjährige Geschäftsführerin und Leiterin des Advocacy-Teams sowie zwei Jahre Landeskoordinatorin in Malawi.

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