Eine intersektionale Perspektive auf die Gesundheit von humanitären Arbeiter*innen

Autor*in: Isabel Josam
Datum: 1. August 2022

In der humanitären Hilfe zu arbeiten, bedeutet leider allzu oft die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Zu häufigen Diagnosen bei humanitären Arbeiter*innen gehören Post-traumatische Belastungsstörung, Depression, Angststörungen und bedenklicher Alkohol- und Drogenkonsum[1-4]. Häufig kommt es in der humanitären Hilfe zu Situationen, die durch hohe Dringlichkeit geprägt sind und in denen man Trauma erlebt werden[5, 6], so dass dieses herausfordernde Arbeitsumfeld wahrscheinlich maßgeblich zur Belastung der humanitären Arbeiter*innen beiträgt. Darüber hinaus steckt die Forschung in diesem Bereich jedoch noch in den Kinderschuhen und fokussiert sich vor allem auf internationale, festangestellte humanitäre Arbeiter*innen. Diese Gruppe von Menschen stellt allerdings nur einen Bruchteil der Arbeitskraft in der humanitären Hilfe[7] und so bleiben die Ursachen für unterschiedlich schwere Belastungen zwischen verschiedenen Personengruppen weitgehend ungeklärt. 

Bislang wurden beispielsweise der Einfluss von rassistischen Erfahrungen auf die Gesundheit von humanitären Helfer*innen nur selten in der Forschung berücksichtigt und zwar obwohl der Großteil der Arbeitskraft in der humanitären Hilfe von nationalen Helfer*innen gestellt wird[7], die meist nicht-weiß sind und somit potentiell durch Erfahrungen von Rassismus betroffen sind. Auch geschlechterspezifische Probleme werden nur selten adressiert, obwohl schon länger bekannt ist, dass Frauen, die in der humanitären Hilfe arbeiten, einem bis zu doppelt so hohem Risiko ausgesetzt sind, unter den oben genannten Erkrankungen und Symptomen zu leiden[8]. Darüber hinaus werden die Realitäten von Menschen mit Geschlechtsidentitäten außerhalb des binären Systems, wie auch von Menschen mit Behinderung meist ganz außer Acht gelassen. Es gibt nur wenige Studien, die intersektionale Perspektiven berücksichtigen und dadurch kommt es zu einer lückenhaften Datenlage. Insbesondere die quantitative Signifikanz für diese Probleme in der humanitären Hilfe wurden bisher kaum untersucht. Da sich die gesundheitliche Versorgung und gesundheitspolitische Entscheidungen stark auf publizierte Forschungsergebnisse stützen, können somit nur jene angemessen erreichen, die darin abgebildet werden. 

Um dieses Problem zu adressieren, leistet die qualitative Studie von Alice Gritti einen wichtigen Beitrag. Sie führte Interviews mit knapp 70 humanitären Arbeiter*innen und verschiedene geschlechterspezifische, belastende Aspekte konnten herausgearbeitet werden[9]. Dazu zählt zum Beispiel, dass es humanitären Arbeiterinnen schwerer fällt, im professionellen Umfeld anerkannt zu werden[9]. Dies hängt teils damit zusammen, dass humanitäre Hilfe häufiger in Regionen geleistet wird, in denen es eher konservative Vorstellungen von Geschlechterrollen gibt. In anderen Studien wurde gezeigt, dass rassistische Zuschreibungen dieses Problem noch verstärken[10], sodass es wahrscheinlich ist, dass dadurch die Gesundheit von humanitären Helferinnen, die auch People of Colour sind, besonders stark gefährdet ist. Darüber hinaus gibt es ebenfalls Hinweise, dass klassistische Diskriminierungen diese Dynamiken ebenfalls beeinflussen. Dies zeigt sich im Alltag der humanitären Hilfe beispielsweise in den Vorteilen, die ein „akzentfreies“ Englisch mit sich bringt. Es wird als Anzeichen für eine Ausbildung im globalen Norden angesehen und führt zu mehr Möglichkeiten für Vernetzung und zu besseren Aufstiegsmöglichkeiten[10].   

Weitere Herausforderungen entstehen für Frauen durch sexuelle Belästigung und sexistische Diskriminierung am und außerhalb des Arbeitsplatzes[9]. Der Umgang und die konstante Rücksichtnahme auf Signale, die möglicher Weise „falsch“ verstanden werden könnten, stellt einen zusätzlichen Stressfaktor dar. Dies hängt auch mit Sicherheitsbedenken zusammen, die Frauen ebenfalls stärker beschäftigen als Männer[9]. Die Sicherheitspolitik von NGOs in der humanitären Hilfe ist ebenfalls noch immer stark von weißer Männlichkeit dominiert, sodass spezifische Bedürfnisse und Sorgen von weiblichen, sowie von nicht-weißen Arbeiter*innen meist nicht berücksichtigt werden[11]. Bis heute bleiben humanitäre Strukturen von einem rassifizierten und geschlechtsspezifischen Bild der Gefahr geprägt, die ausschließlich von außen kommt und so werden Probleme vernachlässigt, die durch Diskriminierung und sexuelle Übergriffe innerhalb der Organisation entstehen[11].

Außerdem leiden Frauen verstärkt unter Schwierigkeiten, ihre Arbeit mit ihrem Privatleben zu vereinbarenund werden häufig vor die Wahl zwischen Familie und Karriere gestellt[9, 12]. Auch für einheimische Arbeiter*innen ist es häufig herausfordernder als für ihre internationalen Kolleg*innen ihre Arbeit mit familiären Verpflichtungen zu vereinbaren[10], sodass auch hier wieder einheimische, nicht-männliche  Arbeiter*innen am stärksten belastet sind.

Zuletzt flammte im Rahmen der COVID-19 Pandemie die Debatte um das Thema Lokalisierung neu auf. Durch den abrupten Abzug vieler internationaler Arbeiter*innen aus humanitären Gebieten konnten sich neue Strukturen entwickeln, die zu einer Arbeit auf Augenhöhe beitragen können[13]. Der offene Diskurs über eine Restrukturierung des Sektors ist auch für die Gesundheit von humanitären Helfer*innen von großer Bedeutung, da bis heute Rassismus und postkoloniale Strukturen die humanitäre Hilfe noch maßgeblich prägen und die Ungleichheit zwischen Arbeiter*innen verstärken[14]. So gibt es beispielsweise oft einen strukturellen Vorteil für internationale Arbeiter*innen aus dem globalen Norden, da es ihnen leichter fällt, international zu reisen und sie tragen seltener Verantwortung für Familienangehörige vor Ort, was ihre Mobilität weiter erhöht[10, 15]. Außerdem finden sich einheimische humanitäre Helfer*innen oft in prekären Arbeitsbedingungen wieder, haben eine geringere Jobsicherheit und weniger Aufstiegsmöglichkeiten als ihre internationalen Kolleg*innen[15]. Bedenken über Karriere und Jobsicherheit führen wiederum oft zu hohen psychischen Belastungen in der humanitären Hilfe[6, 16, 17] . Deswegen ist es naheliegend, dass Menschen auch im Hinblick auf diese Probleme stärker belastet sind, wenn sie zusätzlich von rassistischen Strukturen betroffen sind. 

Darüber hinaus sehen sich nationale humanitäre Arbeiter*innen noch weiteren besonderen Herausforderungen gegenüber, die häufig nicht berücksichtigt werden. Beispielsweise wurde festgestellt, dass sich nationale humanitäre Helfer*innen stärker als ihre internationalen Kolleg*innen mit den Betroffenen einer Katastrophe identifizieren und dadurch größere psychische Belastungen aufweisen[18]. Dieses Problem gewinnt einen besonderen Stellenwert, da häufig insbesondere einheimische humanitäre Arbeiter*innen für die Arbeit in direktem Kontakt mit den Empfänger*innen der humanitären Hilfe eingesetzt werden und dadurch viel emotionale Arbeit leisten müssen. Diese emotionale Arbeit erstreckt sich oft über die offiziellen Grenzen der Arbeit hinaus und sorgt so für eine permanente Mehrbelastung[15].

All diese Überlegungen zeigen deutlich, dass das humanitäre Arbeitsumfeld viel komplexer und diverser ist, als es die aktuelle Forschungslandschaft vermuten lässt. Insbesondere im Bereich von rassistischen, sexistischen, klassistischen, trans- oder homophone, und ableistischen, also auf Grund von einer Behinderung stattfindenden Form von Diskriminierung und ihren Einflüssen auf die Gesundheit von humanitären Arbeiter*innen gibt es noch eine große Forschungslücke. Ein Großteil der Forschung widmet sich nach wie vor weißen, fest angestellten humanitären Arbeiter*innen, obwohl dies nicht dem Großteil der Arbeitskraft in der humanitären Hilfe entspricht[7]. Die Forschung scheint somit einem vorherrschenden Konstrukt zu entsprechen, dass den weißen Mann als idealen humanitären Arbeiter verinnerlicht hat[10]. Die hier beschriebene einseitige Datenlage verzerrt das Bild, welches von der humanitären Hilfe gezeichnet wird und trägt durch die strukturelle Benachteiligung mehrerer Personengruppen weiter zur Verfestigung des Status quo bei. 

Eine angemessene Repräsentation in der Forschung ist wichtig, um die tatsächliche Diversität von Menschen in der humanitären Hilfe besser abbilden zu können und einen strukturellen Wandel voranzutreiben. Dies ist zum einen eine Frage der Gerechtigkeit und dient zum anderen auch dem direkten Schutz der Gesundheit von humanitären Arbeiter*innen. Somit sind strukturelle Änderungen nicht nur für die betroffenen Individuen ein wichtiger Aspekt, sondern sollte auch für die Organisationen von vorrangiger Bedeutung sein, da eine mangelhafte Gesundheit und reduziertes Wohlbefinden sich negativ auf die gesamte Organisation auswirken kann und die Qualität und Effizienz ihrer Arbeit verringert[19]

Isabel Josam promoviert zur Zeit an der Universität Hamburg am Institut für Medizinische Soziologie. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit untersucht sie die Gesundheit von Freiwilligen in der humanitären Hilfe. Sie hat in der Vergangenheit selbst in der humanitäre Versorgung von Geflüchteten in Griechenland gearbeitet und war 2022 als Praktikantin für das CHA tätig.  

Quellen

  1. Ager, A., et al., Stress, mental health, and burnout in national humanitarian aid workers in Gulu, northern Uganda. Journal of Traumatic Stress, 2012. 25(6): p. 713-720.
  2. Connorton, E., et al., Humanitarian relief workers and trauma-related mental illness. Epidemiologic Reviews, 2012. 34: p. 145-155.
  3. Lopes-Cardozo, B., et al., Psychological distress, depression, anxiety, and burnout among international humanitarian aid workers: a longitudinal study. PLoS One, 2012. 7(9).
  4. Strohmeier, H., W.F. Scholte, and A. Ager, Factors associated with common mental health problems of humanitarian workers in South Sudan. PLoS One, 2018. 13(10).
  5. Jachens, L., J. Houdmont, and R. Thomas, Work-related stress in a humanitarian context: a qualitative investigation. Disasters, 2018. 42(4): p. 619-634.
  6. Korff, V.P., et al., The impact of humanitarian context conditions and individual characteristics on aid worker retention. Disasters, 2015. 39(3): p. 522-45.
  7. Knox Clark, P., The State of the Humanitarian System (SOHS) 2018 – Full Report. 2018.
  8. Chatzea, V. E., Sifaki-Pistolla, D., Vlachaki, S. A., Melidoniotis, E. & Pistolla, G. 2018. PTSD, burnout and well-being among rescue workers: Seeking to understand the impact of the European refugee crisis on rescuers. Psychiatry Research
  9. Gritti, A., Building aid workers’ resilience: why a gendered approach is needed. Gender & Development, 2015. 23(3): p. 449-462.
  10. Houldey, G., Humanitarian response and stress in Kenya: gendered problems and their implications. Gender & Development, 2019. 27(2): p. 337-353.
  11. Daigle, M., S. Martin, and H. Myrttinen, ‘Stranger Danger’ and the Gendered/Racialised Construction of Threats in Humanitarianism. Journal of Humanitarian Affairs, 2020. 2(3): p. 4-13.
  12. Strohmeier, H. and C. Panter-Brick, Living with transience in high-risk humanitarian spaces: the gendered experiences of international staff and policy implications for building resilience. Disasters, 2020. 46(1): p. 119-140.
  13. Mitchell, J. Decolonisation and localisation: new dawn or old history? 2021  [cited 2022 09.05.2022]; Available from: https://www.alnap.org/blogs/decolonisation-and-localisation-new-dawn-or-old-history.
  14. Patel, S. Localisation, racism and decolonisation: Hollow talk or real look in the mirror? 2021  [cited 2022 IASC Accountability and Inclusion Resources Portal ]; Available from: https://aap-inclusion-psea.alnap.org/blogs/localisation-racism-and-decolonisation-hollow-talk-or-real-look-in-the-mirror.
  15. Pascucci, E., The local labour building the international community: Precarious work within humanitarian spaces. Environment and Planning A: Economy and Space, 2018. 51(3): p. 743-760.
  16. Lopes-Cardozo, B., et al., The mental health of expatriate and Kosovar Albanian humanitarian aid workers.Disasters, 2005. 29(2): p. 152-70.
  17. Young, T.K.H., K.I. Pakenham, and M.F. Norwood, Thematic analysis of aid workers’ stressors and coping strategies: work, psychological, lifestyle and social dimensions. Journal of International Humanitarian Action, 2018. 3(1).
  18. Thormar, S.B., et al., Organizational factors and mental health in community volunteers. The role of exposure, preparation, training, tasks assigned, and support. Anxiety Stress Coping, 2013. 26(6): p. 624-42.
  19. Manning, D. and A. Preston, Organizational stress: Focusing on ways to minimize Distress. Cupa Hr Journal, 2003. 54: p. 15-18.

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