Dr. Vladimir Handl ist einer der führenden osteuropäischen Experten für Deutschland und deutsche Außenpolitik. Er war viele Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationale Beziehungen in Prag (IIR) tätig und lehrt aktuell am Fachbereich für Deutschlandstudien an der Karls-Universität in Prag. 

Das Interview für POLITIKUM führte Johannes Varwick.

Interview mit Vladimir Handl: Zeitenwende weiterdenken

POLITIKUM: Ich möchte mit Ihnen über die Wahrnehmung Deutschlands und deutscher Außenpolitik reden und dabei einige längere Linien herausarbeiten. Zunächst allgemein gefragt: Wie nehmen Sie die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt ganz grundsätzlich wahr?

Vladimir Handl: Deutschland ist keine Führungsmacht und auch kein Hegemon, schon gar nicht eine klassische militärische Großmacht und möchte auch keine sein. Ob es dabei bleibt, hängt vor allem von Vladimir Putin und Russland ab. Trotzdem spielt Deutschland in vielerlei Hinsicht eine Schlüsselrolle und wird so auch betrachtet. Im positiven Sinne wird es oft mit Erwartungen überfrachtet, im negativen Sinne wird es entweder als arrogant und durchsetzungsfähig oder als zu passiv und egoistisch wahrgenommen. Wie so oft bei wichtigen internationalen Akteuren ist die Perzeption Deutschlands also gespalten. 

POLITIKUM: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Vladimir Handl: Es gibt bekannte Beispiele, in denen Deutschland in der EU eine Führungsrolle übernommen und seine Partner vorangetrieben hat, es gibt umgekehrt auch andere Beispiele, in denen es die EU ausgebremst hat. Viel Kritik erntet Deutschland etwa in der Frage seiner permanenten und riesigen Handelsüberschüsse. In meiner Einschätzung ist Deutschland vor allem eine „enabling power“ – die angemessene deutsche Übersetzung dafür ist wohl „Ermöglichungsmacht“.

POLITIKUM: Was meinen Sie damit?

Vladimir Handl: Nun, zunächst ist Deutschland die stärkste Wirtschaftsmacht Europas, die, auch dank des zurecht kritisierten Überschusses, mehr als andere Staaten die finanziellen Mittel aufbringt, politische Entscheidungen zu ermöglichen. Zudem hat Deutschland die institutional capacity in der EU intensiv Politik auf unterschiedlichen Ebenen zu realisieren. Zugleich hat Deutschland ein durchaus begrenztes Level an Arroganz sowie an im Verhältnis zum Machtpotential ebenfalls begrenztem Egoismus und Populismus – und genau dies ermöglicht es Deutschland als ehrlicher Makler im politischen Prozess der EU zu agieren. Eine wichtige Ressource stellt der zwar geschwächte, aber doch noch immer existierende „permissive Konsensus“ in außenpolitischen Fragen im deutschen Bundestag dar. Alles zusammen genommen gibt dies der deutschen Politik die Chance, mit strategischer Geduld Kompromisse zu verhandeln, gemeinsames und inklusives Herangehen zu suchen und damit oft eben Lösungen zu ermöglichen. Es ist wichtig zu bemerken, dass in diesem Modus die Rolle Deutschlands international zwar am wenigsten kontrovers ist, aber zu Hause zu einer Politisierung der Außenpolitik beiträgt. 

POLITIKUM: Können Sie etwas mit Begriffen wie „Zivilmacht“ oder „Handelsstaat“ anfangen oder sind dies unbrauchbare Kategorien zur Bewertung der deutschen Außenpolitik?

Vladimir Handl: Beide Begriffe sind hilfreich, um klar definierte Rollenmodelle zu beschreiben. Die politische Realität ist aber bunter und die Dynamik der Veränderungen unvorhersehbar. Die Politik reagiert zum großen Teil situativ und Deutschland spielt deswegen oft mehrere Rollen zugleich, die z. T. auch in gegenseitiger Spannung oder gar in Widerspruch zueinanderstehen können. Ich schätze deswegen besonders das Konzept von Jakub Eberle, das Deutschland als dividual power (gespaltene Macht) beschreibt, diese durchaus kontroverse Dynamik wird damit meines Erachtens am besten erfasst. 

POLITIKUM: Ist die Sorge vor einer dominanten Rolle Deutschlands tatsächlich vollkommen aus dem Diskurs verschwunden und gilt das, was der damalige polnische Außenminister Sikorski im Jahr 2011 sagte, dass er deutsche Macht heute weniger fürchte als deutsche Untätigkeit, auch in Ihrer Perspektive?

Vladimir Handl: Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten, die davon abhängen, wen Sie fragen und um welche Aspekte der deutschen Machtposition es sich handelt. Dabei scheint es mir inzwischen einen Konsens zu geben: Die Militärmacht Deutschlands ruft keine Besorgnis mehr hervor – bei den Nachbarn genauso wenig wie bei weit entfernten Staaten. Im Gegenteil, die Nachbarn und Alliierten sind eher besorgt über militärische Schwäche, manche nehmen Deutschland gar als einen Trittbrettfahrer in Sachen militärischer Sicherheit wahr. Die Besonderheit der deutschen Position besteht darin, dass es sich um den wirtschaftlich und politisch stärksten Staat der EU handelt. 

POLITIKUM: Und der andere Bereich?

Vladimir Handl: Nun, dort wird „deutsche Dominanz“ durch manche Staaten und politische Akteure kritisiert. Hier geht es aber sehr oft um mangelnde Kompatibilität der politischen, normativen und kulturellen Präferenzen. So wird der deutsche Ordoliberalismus vor allem in den Staaten des europäischen Südens nicht geteilt und der Einfluss Deutschlands als zu groß bewertet. Die Energiewende und der deutsche Druck, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Aufbau neuer Kernkraftwerke zu erschweren, wird von Befürwortern der Atomkraft bitter kritisiert. Anderes Beispiel: Verfechter einer konservativen kulturellen Revolution kritisieren die liberale kulturelle Dominanz die u. a. aus Deutschland kommt, und sehnen sich nach dem alten konservativen und z. T. autoritären Deutschland vor dem Jahr 1968. Ich selbst sehe keine wirkliche Dominanz, doch einen großen Einfluss vor allem in der Eurozone und glaube, das strikte Beharren auf dem ordoliberalen Modell und die Höhe des Handelsüberschusses sind seit einiger Zeit nicht mehr haltbar, auch Deutschland wird hier Abstriche machen müssen. 

POLITIKUM: In der Ukraine-Krise ist die Position der Bundesregierung insbesondere in Osteuropa auf teilweise sehr scharfe Kritik gestoßen. Neben Detailkritik am Umfang der Waffenlieferungen infolge des russischen Angriffskrieges geht es auch um grundsätzliche Fragen, etwa, wie mit Russland umzugehen sei und ob Deutschland da den richtigen Kompass hatte und hat. Wenn Sie auf die vergangenen Jahre vor dem Krieg und nun die aktuelle Frage im Sommer 2022 blicken: Wie würden Sie die deutsche Rolle bewerten? 

Vladimir Handl: Die frühere deutsche Russlandpolitik nehme ich als einen Versuch Deutschlands wahr, wirtschaftliche Eigeninteressen zu bedienen, zugleich aber auch – oder gar primär – Russland zu befrieden, in das internationale System zu integrieren und durch Interdependenz (Nord Stream 2, Verkauf von Gasspeicherkapazitäten) seine wachsende Aggressivität zu zähmen. Man ist offensichtlich von der Überzeugung ausgegangen, Deutschland hätte eine besondere Kompetenz und deswegen auch die Berufung, auf die russische Führung Einfluss zu nehmen, Putin Angebote zu machen und zugleich seine Grenzen klar zu definieren. Offensichtlich glaubte die deutsche Politik und auch die deutsche Wirtschaft, man habe es mit einem schwierigen, doch aber „normalen“ Partner zu tun. Die tragische Realität ist vielmehr, dass man mit einem kranken politischen Leader, einem kranken Staat und einer kranken Gesellschaft konfrontiert ist, die ohne weiteres bereit sind, fast jeden Zivilisationsrahmen zu brechen. Politisch brisant war, dass diese Art der deutsche Russlandpolitik mit Arroganz verbunden war: Berlin ignorierte einfach die Bedenken und Warnungen vieler Mittelosteuropäer und beschädigte sein Image in dieser Hinsicht nachhaltig. 

POLITIKUM: Putin hat die deutsche Russlandpolitik mit einem Schlag vernichtet und damit auch Autorität und Selbstbewusstsein deutscher Politik schwer angeschlagen? 

Vladimir Handl: Ich habe keine Zweifel an der deutschen Solidarität mit der Ukraine und an dem Paradigmenwechsel deutscher Russlandpolitik – denn diese gibt es nach dem 24. Februar 2022 kaum mehr. Deutsche Russlandpolitik heißt jetzt vornehmlich Ukraine-Politik. Wir sehen schnelles deutsches decoupling von Russland, auch wirtschaftlich – ein unglaublicher Vorgang, der nur mit der Zeit Hitlers Krieges gegen die UdSSR vergleichbar ist. 

POLITIKUM: Tut Deutschland denn genug, um die Ukraine zu unterstützen?

Vladimir Handl: In der Unterstützung der Ukraine macht Deutschland fast alles, was nötig ist, in vielen Bereichen sogar mehr als andere Staaten. Das Problem ist, dass es – wie schon unter Merkel – getrieben ist, statt vorausschauend zu agieren. Die Politik kommt nicht aus dem Nachholmodus, die Kommunikation ist chaotisch und nicht überzeugend. Zweitens zögert nicht nur Deutschland offensichtlich mit der Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine. Es entsteht der Eindruck, dass wenigstens Teile der SPD und auch Scholz selbst mehr an Putins Eskalationswahn als an den Sieg der Ukraine, wie auch immer definiert, glauben. Aus meiner Sicht will Scholz primär einen Krieg der NATO mit Russland verhindern, Verhandlungskanäle offenhalten und die gewohnte Rolle eines ehrlichen Maklers wieder einnehmen. Was die Ukraine anbetrifft, soll die Existenz und Souveränität eines ukrainischen Rumpfstaates gesichert werden, der mit Unterstützung des Westens (und eben Deutschlands) einen Frieden mit Russland ausverhandeln sollte. 

POLITIKUM: Ist das nicht insgesamt vernünftig?

Vladimir Handl: In dieser Haltung sehe ich einen grundlegenden Widerspruch: Putin sieht sich im Krieg im Osten Ukraine als eindeutiger Sieger und wird mit seiner Feuerwalze die Ukraine langsam immer weiter zermürben. Dass er damit den Westen als Partner für Generationen verliert, ist einkalkuliert, seine Aggression war doch schon seit 2014 eben auch gegen den verhassten Westen gerichtet. Um ein nachhaltiges Verhandlungsergebnis mit dieser Art von antiquierter, brutaler Macht zu erzielen, muss die Ukraine im Stande sein, militärisch standzuhalten und eine Pattsituation auf dem Schlachtfeld zu erzeugen. Dafür braucht sie aber unbedingt Artillerie mit großer Reichweite. Auch russische Experten im Exil bestätigen in privaten Gesprächen, Putin müsse militärisch gestoppt werden, sonst geht er immer weiter. Deutschland geht in dieser Richtung mit kleinen Schritten voran, kann aber womöglich zu spät ankommen. Statt Entschlossenheit und Führung zu zeigen, agiert es minimalistisch und eigentlich im Widerspruch zu den selbsterklärten Verhandlungszielen. 

POLITIKUM: Wie bewerten Sie die „Zeitenwende“, die der deutsche Kanzler Scholz im Februar 2022 angekündigt hat? Ist die Analyse richtig und hat Deutschland seitdem die richtige Richtung eingeschlagen? 

Vladimir Handl: Die „Zeitwende“ ist richtig und notwendig: Deutschland fühlt sich zum ersten Mal von Russland bedroht, militärisch wie energiepolitisch und passt sich der neuen Lage an. Mit der Wende kommt aber nicht unbedingt eine wirklich neue Rolle Deutschlands in Europa und den internationalen Beziehungen. Ich sehe zurzeit wenig politischen Willen zu einem neuen strategischen Denken. Auch die neue nationale Sicherheitsstrategie droht zu einer interessanten akademischen Übung zu werden, die die Politik nicht bewegen wird. Zeitwende ist in dieser Sicht bis jetzt kein Sprung nach vorne, sondern eher ein „Sprung nach innen“ – eine introvertierte defensive Reaktion auf die entzähmte russische Kriegslust und Expansionismus. 

POLITIKUM: Wenn Sie die deutsche Außenpolitik beraten würden, was wären drei zentrale Ratschläge, die sie dem Kanzler oder der Außenministerin mit auf den Weg geben würden? 

Vladimir Handl: Kanzler Scholz sollte vor allem die Zeitwende weiterdenken, und zwar insbesondere bezüglich des außenpolitischen Prozesses und der internationalen Rolle Deutschlands. Im Inneren verspricht schon der Koalitionsvertrag eine Außenpolitik aus einem Guss und will ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten. Das ist aber schwer zu erzielen, wenn weiterhin eine zentrale politische und analytische Koordinierungsstelle in Form eines nationalen Sicherheitsrates fehlt. Alle bisherigen Anläufe sind gescheitert, vor allem an parteipolitischen und ressortinstitutionellen Widerständen und fehlendem persönlichen Engagement der führenden Akteure. Der deutsche institutionelle Pluralismus und der politische Polyzentrismus, der die demokratische Staatlichkeit und Stabilität sichern soll, bremst die deutsche Politik in der Situation des internationalen Umbruchs aus. Zweitens, der Bundeskanzler ist scheinbar zwar kein Akteur, der in einer Kriegssituation internationale Führung anbieten will, selbst für das traditionelle leading from behind (W. E. Paterson) ist er in den militärischen Fragen offensichtlich nicht verfügbar. Eine deutsche Führung ist aufgrund seines Zögerns in einigen mittelosteuropäischen Staaten auch nicht mehr wirklich gewollt. Die Autorität von und das Vertrauen in Deutschland sind spürbar gesunken, was auch Frankreich und damit das deutsch-französische Tandem betrifft. Trotzdem kommt es in der Umbruchssituation selbstverständlich auf Deutschland an. Der Kanzler sollte sich auf die schon oben erwähnte Kompetenz als enabling power konzentrieren und diese auch besser kommunizieren. Eine aktive Rolle Deutschlands ist unerlässlich vor allem in der mittleren Zukunft, bei einer Flankierung der zukünftigen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, ganz besonders beim Wiederaufbau der Ukraine, bei der Klimakrise, der Modernisierung des EU-Wirtschaftsmodells und der Vorbereitung notwendiger EU-Reformen. 

POLITIKUM: Und Ihr dritter Punkt? 

Vladimir Handl: Spätestens mit der Rückkehr des Krieges in Europa brauchen wir auch mehr „machtpolitische Sozialisierung“ (G. Hellmann) Deutschlands und nicht nur Deutschlands, sondern der EU. Europa muss eine eigene Verteidigungskapazität entwickeln, die in keiner Weise eine Abschwächung der Atlantischen Allianz durch die EU bedeuten darf. Die Ampel-Koalition sollte sich sehr aktiv einbringen, um einen Progress auf diesem Weg zu ermöglichen, inklusive ad-hoc-Koalitionen der Willigen und minilaterale Formate. 

POLITIKUM: Letzte Frage, Herr Handl: Vermissen Sie Angela Merkel? 

Vladimir Handl: Angela Merkel verdient Respekt und Ruhe. Ich war mit manchen ihrer Entscheidungen nicht einverstanden, etwa Nord Stream 2, und vermisste bei ihr eine langfristige strategische Ausrichtung. Ihre Politik war aber sowohl interessen- als auch wertegeleitet, sie verkörperte nicht nur hohe politische Kompetenz, sondern auch Kultur. In diesem Sinne vermisse ich Sie – auch wenn ich glaube, dass heute mehr Führung und Kommunikation notwendig sind. Nicht nur um den Weg Deutschlands klar zu definieren, sondern auch um die Gesellschaft auf diesen schwierigen Weg mitzunehmen und damit die Politik demokratisch zu legitimieren. Ob Olaf Scholz, in vieler Hinsicht eine Fortsetzung von Merkel mit anderen Mitteln, das schafft, bleibt erstmal offen.

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