Experte über humanitäre Hilfe: „Das Risiko tragen Einheimische“
Ex-UN-Spezialist Ralf Südhoff über das fatale Machtgefälle von Nord zu Süd und warum es für die richtige Hilfe Leute vor Ort braucht. Interview von Sereina Donatsch.
Herr Südhoff, weltweit wächst die Not, doch die finanziellen Mittel, um die Menschen vor Ort zu unterstützen, sinken. Steckt die humanitäre Hilfe in einer Krise?
Die Not und der Bedarf an humanitärer Hilfe nehmen schon seit zwei Jahrzehnten drastisch zu: Weltweit gibt es mehr und viel länger andauernde Konflikte, und zudem sind die verheerenden Folgen des Klimawandels bereits spürbar. Anfang der 2000er Jahre betrug der weltweite Bedarf noch rund zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr – heute liegt er zwischen 45 und 50 Milliarden. Außerdem hat die Bundesregierung ihre humanitäre Hilfe im zweiten Jahr in Folge gekürzt, insgesamt um mehr als 30 Prozent. Und die USA als größter Geber der Welt planen Ähnliches.
Ist es unter diesen Umständen überhaupt noch möglich, eine gerechte Verteilung von Hilfe zu ermöglichen?
Nach Schätzungen der UN sind rund 300 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Eine Priorisierung in der Vergabe ist heute unvermeidlich. Bereits im vergangenen Jahr fehlten weltweit rund 60 Prozent der Mittel. Das bedeutet, dass fast zwei Drittel der weltweit benötigten Hilfe nicht geleistet werden konnte, und das dürfte in diesem Jahr noch harscher werden.
Nationale Interessen bestimmen, wer humanitäre Hilfe bekommt
Wenn Krisengebiete um begrenzte Ressourcen konkurrieren, rücken womöglich dann auch politische Faktoren in den Vordergrund?
Während die Nothilfe in der Ukraine als strategisch wichtig angesehen wird, wird die Hungerkrise am Horn von Afrika dagegen vernachlässigt. Humanitäre Hilfe wird vielfach nach nationalen Interessen vergeben. So wird in einigen Krisenregionen die Hilfe zu 70 bis 80 Prozent finanziert – in anderen vergessenen Krisen werden nicht einmal sieben bis acht Prozent der benötigten Mittel aufgebracht. Heute wird die Ukraine überfinanziert, während der Südsudan in Vergessenheit gerät.

Humanitäre Hilfe sollte eigentlich auf Neutralität basieren. Ist das überhaupt möglich?
Grundsätzlich soll humanitäre Hilfe nur nach dem größten Bedarf vergeben und nicht politisch gesteuert werden. Diese Neutralität stößt jedoch an ihre Grenzen. Die sicherheitspolitischen Interessen der Regierungen können nicht ignoriert werden. Frankreich hat seit der Kolonialzeit traditionell viel stärkere Interessen in Westafrika – nicht zuletzt wegen der Rohstoffe –, Belgien engagiert sich sehr stark im Kongo und die USA konzentrieren sich stärker auf Lateinamerika.
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Zu Person und Sache
Ralf Südhoff (56) ist seit Januar 2019 Gründungsdirektor des Centre for Humanitarian Action (CHA), einem unabhängigen Thinktank für humanitäre Hilfe in Berlin.
Die Denkfabrik wurde 2018 gegründet und wird unter anderem vom Deutschen Roten Kreuz, den Ärzten ohne Grenzen und der Diakonie getragen. Zuvor arbeitete Südhoff als Direktor des UN-Welternährungsprogramms in Jordanien und in der Syrienhilfe sowie als Referent der damaligen Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Uschi Eid.
Der ehemalige Journalist plädiert in einer Studie für eine bessere Koordination der humanitären Hilfe, Unterstützung lokaler Helfer:innen und Koalition einflussreicher Geberregierungen. Das Europäische Humanitäre Forum, das vom 18. bis 19 März in Brüssel stattfand, bot dem CHA die Gelegenheit, die Öffentlichkeit und die Politik für diese Probleme zu sensibilisieren.
In Brüssel trafen sich Vertreter:innen der Vereinten Nationen, von Hilfsorganisationen und politische Entscheidungsträger, einschließlich der Außenministerin Annalena Baerbock. Sie diskutierten über die eskalierenden Krisen in Palästina, der Ukraine, im Jemen und am Roten Meer. sd
Gilt es diese divergierenden Interessen zu akzeptieren, sie aber besser zu koordinieren?
Es gilt sie wo immer möglich zurückzudrängen, das ist auch ein interner Konflikt zum Beispiel im deutschen Außenministerium. Wo dies nicht möglich ist, wäre aber umso wichtiger, diesbezüglich transparenter zu sein und sich unter den Geberregierungen besser abzustimmen. Wenn einige Staaten aus anderen Interessen heraus ohnehin unverhältnismäßig viel in bestimmte Länder investieren, dann könnten wir gemeinsam und frühzeitig planen, uns besser koordinieren und andere Länder in den Fokus rücken. Die 27 EU-Mitgliedstaaten verfügen über unterschiedliche finanzielle Möglichkeiten, aber auch ihre Interessen gehen zunehmend auseinander und sie könnten sich viel besser ergänzen, wie wir in einer neuen Studie nachweisen.
„Könnten Milliarden sparen“ – Humanitäre Hilfe sollte Organisationen vor Ort miteinbeziehen
Sie bemängeln eine schlechte Koordination auf internationaler Ebene, schrumpfende Mittel, aber man könnte wesentlich sparen, wenn man die Akteure vor Ort besser miteinbeziehen würde. Richtig?
Wir könnten Milliarden sparen, wenn wir wo immer möglich viel stärker auf lokale Organisationen zurückgreifen würden, statt dass beispielsweise europäische Mitarbeitende mit westlichen Gehältern stetig ein- und ausfliegen. Die Arbeit der lokalen Akteure ist auch effektiver, da sie in der Regel mehr über das Land und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort wissen und besser vernetzt sind. Doch nur ein bis zwei Prozent der internationalen humanitären Hilfe gehen an lokale Organisationen. Wenn Hilfsorganisationen vor Ort künftig mehr Mittel und Mitspracherecht erhalten, käme dies einem Machtverlust der großen internationalen Organisationen gleich. Sie haben aber nur ein begrenztes Interesse daran, ihr Geschäftsmodell zu reformieren – von dem auch viele Arbeitsplätze abhängen.

Was könnte getan werden, damit internationale Hilfsorganisationen in diesem Bereich Macht abgeben?
Auch das ist eine Frage der Koordination: Die Geberregierungen müssten gemeinsam Druck ausüben, und notfalls auch damit drohen, die finanziellen Mittel der großen Hilfsorganisationen zu kürzen, wenn diese nicht mindestens gleichberechtigt mit den lokalen Partnern zusammenarbeiten. Derzeit entwerfen aber zumeist die internationalen Hilfsorganisationen gemeinsam mit Geberregierungen Programme, von denen einige schlichtweg schlecht konzipiert sind, und die lokalen Organisationen – am Ende der Kette – müssen sie umsetzen. Sie knüpfen nicht an die lokalen Bedürfnisse an und schaffen auch keine Hilfe zur Selbsthilfe. Wir können dieses Milliardengeschäft der humanitären Hilfe nicht von heute auf morgen auf kleine lokale NGOs übertragen, aber diese Diskussion ist Jahrzehnte alt und wir hätten schon viel früher damit beginnen sollen. Dann würden wir nicht bei jeder Krise vor denselben Herausforderungen stehen.
Die internationalen Organisationen tragen ja auch nicht die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht.
Genau, dieses Risiko wird dann auf die Einheimischen abgewälzt. Zugleich wird so getan, als ob man diese Hilfe immer völlig korrekt und nachhaltig leisten könnte: Jeder Euro kommt an. Das stimmt natürlich nie und ist vor allem in Zeiten großer Krisen und Konflikte eine völlige Utopie. Es braucht mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit und Toleranz von uns Spender:innen gegenüber Fehlern.